»Chronic City« ist Jonathan Lethems drittes New-York-Porträt. Protagonist und Erzähler Chase Insteadman – Stattmann, Platzhalter, subtile Namenssymbolik gleich zu Beginn – ist ein in die Jahre gekommener Kinderstar, der inzwischen von Tantiemen und seiner mehr als Fernbeziehung zu der Astronautin Janice Trumbull lebt. Janice steckt in ihrer Raumstation fest, eingekesselt von chinesischen Minen. Dieses tragische Schicksal macht Chase zum gern gesehenen Dekorationselement auf den Partys der Manhattaner Society. Seine tägliche Routine wird erst durch seine Bekanntschaft mit dem ehemaligen Rockkritiker Perkus Tooth durchbrochen, der inzwischen zurückgezogen in einem abgedunkelten Appartment lebt, sich von Kaffe und Marihuana ernährt und beständig an der Kippe zwischen Genie und Wahnsinn schwebt. Diese Zustände werden vor allem durch seine Cluster-Kopfschmerzen ausgelöst, deren Gegenstück Perkus als »Ellipsen« beschreibt – Momente, in denen das Denken völlig erlahmt und er Erleuchtungen und Visionen hat. Chase ist ebenso gebannt wie begeistert von dieser Gestalt und wird zu seinem Dauergast und Schüler.
Gemeinsam erleben die beiden ein surreales, buntes aber gleichzeitig Furcht einflößendes Manhattan, in dem ein undurchdringlicher grauer Nebel über der Wall Street liegt, es nicht mehr aufhört zu schneien und die Stadt von einem entlaufenen Tiger heimgesucht wird, der wahllos Gebäude zerstört. Inmitten dieses Chaos verfolgen sie die Spur einer außergewöhnlichen Keramik, die den Weg zu einer neuen Welt öffnen soll – eine Art heiliger Gral. Kern dieser Suche und all ihrer Etappen ist aber auch die Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen Sein und Schein. Tatsächlich spielt Lethem gekonnt mit der Idee einer Welt in der Welt und dem Verschwimmen der Grenzen der Wirklichkeit – sei es in den Cluster-Ellipsen von Perkus Tooth, den Parallelwelttheorien von Oona, der geheimen Liebhaberin von Chase, oder der virtuellen Spielwelt »Yet Another World« bis hin zur kriegsfreien Ausgabe der New York Times. Gegen Ende hin spitzt sich dieses Spiel mit der Realität immer mehr zu, bis nichts mehr so ist, wie es anfangs noch schien. Untermalt wird Lethems Sammelsurium kurioser Stadtbegebenheiten von einer unendlichen Reihe popkultureller und intertextueller Referenzen, die sich von den Muppets bis zu Marlon Brando erstrecken.
Und so bleibt die Leserin fasziniert zurück – zumindest so lange, bis es unsere Simulation ist, der der Stecker gezogen wird: »Was sollen wir tun?« »Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas tun können«, sagte Oona. »Außer, falls möglich, unsere Simulatoren so richtig bei Laune zu halten.«
Jonathan Lethem: »Chronic City«. Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner, Stuttgart: Tropen 2011, 495 Seiten, EUR 25,70