Beim Impulstanzfestival in Wien finden in diesem Jahr zwischen 11. Juli und 11. August 65 Performances und über 230 Workshops statt. Dier in Berlin lebende*r Künstler*in und Musiker*in Jam Rostron, besser bekannt als Planningtorock, hat zuletzt das Album »Powerhouse« veröffentlicht und gastiert am 2. August 2019 mit einer »Musical Show« im Museumsquartier. Gemeinsam mit dem Choreografen Ian Kaler konzipierte Rostron eine interdisziplinäre Show aus Musik, Tanz und Performance, die über das Konzerterlebnis hinausgeht und ein intimes Porträt über Rostrons eigene Vergangenheit in Nordengland und das Leben als nicht-binäre*r Künstler*in in einer patriarchalen Umgebung abbildet. Neben der »Musical Show« bieten Rostron und Kaler im Rahmen des Impulstanzfestivals einen zweitägigen Workshop an, bei der sie das »Unbewusste akzeptieren« und Teilnehmende dazu anleiten, »das Räumliche und Visuelle mit dem Somatischen zu verbinden«.
skug trifft Planningtorock an einem heißen Junitag in einer Hotellobby im 3. Bezirk. An den Wänden hängen Bilder, die nichts aussagen; im Hintergrund ruckelt eine Kaffeemaschine. Die Pressekonferenz zur Präsentation des Impulstanzfestival-Programms musste Rostron zuvor absagen. Eine kleine Erkältung, die Stimme leidet. Für das Gespräch nimmt sich Rostron, dier sich als nicht-binär und genderqueer identifiziert, trotzdem Zeit. Zu Beginn sprechen wir über geschlechtsneutrale Sprache und welche Pronomen ich für diesen Text verwenden soll. »Im Englischen lauten meine Pronomen they/them/their, aber das ist leider nicht so einfach in die deutsche Sprache zu übersetzen«, sagt Rostron und fügt an: »Ich finde deshalb die xier/xies/dier-Pronomen gut.«
Reise in die Vergangenheit
Planningtorock hat als genderqueere*r Künstler*in seit xiesem Karrierebeginn 2006 eine Oper auf die Bühne gebracht, vier Alben produziert und sich mit Genderthemen ebenso intensiv beschäftigt wie mit sozialer Ungerechtigkeit. Mit Songs, die sich wie »Patriarchy Over & Out« aus der New-House-Ecke pellen, spielt xier mit Geschlechterstereotypen und irritiert. Auf xiesem Album »Powerhouse«, das 2018 erschien, wagt Rostron einen Blick in xiese Vergangenheit. Ein Blick, der nicht möglich gewesen wäre, ohne die Musik, die xier davor aufgenommen hat. »Im Rückblick fühlen sich diese vier Alben wie eine Reise durch meine eigene Persönlichkeit an. Als ich ›Have It All‹ (2006) produzierte und schrieb, handelte es viel von meinem Weggang aus England und dem Umzug nach Berlin. Es war eine persönliche Entdeckung, nicht nur als Person zu wachsen, sondern dieses Wachstum auch mit meiner eigenen Musik steuern zu können«, erklärt xier. Während der Zeit, als Rostron »W« (2011) schrieb, habe xier eine persönliche Krise durchlebt. »Ich wusste nicht, ob es das auslöst, was ich auslösen wollte. Darum war ›All Love’s Legal‹ (2014) so direkt – mit all diesen politisch anmutenden Slogans wie ›Misogyny Drop Dead‹ und ›Let’s Talk About Gender Baby‹. Musik verkörpert für mich diese Entdeckung. Ich lege immer mehr von mir frei und helfe mir damit, mich selbst zu verstehen – auch, indem ich mich Dingen stelle, die mir schwerfallen. Musik ist in gewisser Weise meine Erziehung.«
Eine Erziehung, aus der nun ein Musical entstanden ist, obwohl xier sich nur vage an diesem Begriff orientieren möchte. »Es ist vielmehr eine Reinterpretation dessen, was das Wort Musical für mich bedeutet: Nämlich viele Dinge, die gleichzeitig passieren können«, sagt Rostron. Gemeinsam mit Ian Kaler, einem der bedeutendsten österreichischen Choreografen der letzten Jahre, versuche xier eine Show auf die Bühne zu bringen, die verschiedene Elemente vereint, in einer klassischen Konzertsituation aber nicht umsetzbar sei. »Es geht viel um klassisches Storytelling. Ich will meine Geschichte erzählen. Natürlich ist Musik das Herzstück des Ganzen. Aber es beschränkt sich nicht darauf«, erklärt Rostron. Das sei gerade am Anfang nicht leicht gewesen, betont xier. »Ich musste lernen, mich nicht nur in meinen Songs, sondern auch auf der Bühne direkt ans Publikum zu wenden. Das ist eine Technik, die nicht viele beherrschen – und an der man feilen muss. Aber ich wusste, dass ich die persönlichen Themen, die ich auf »Powerhouse« behandle, live genauso persönlich vermitteln muss.« Nur so könne sich das Publikum auf die Musik einlassen. Nur so könne es verstehen und sich berühren lassen. Diese Berührung versuche Rostron zusätzlich mit privaten Filmaufnahmen von xierer Familie zu transportieren. Mit der »Powerhouse Musical Show« bringen außerdem Tänzer*innen um Ian Kaler eine ganz neue Ebene in Rostrons Arbeit. »Das ist für mich einzigartig. Ich hatte davor noch nie die finanziellen Möglichkeiten, mit so vielen Leuten auf der Bühne zusammenzuarbeiten«, sagt xier.
Was Peaches im Berghain mit Kartonhelmen zu tun hat
Gerade die Zusammenarbeit mit dem Choreografen Ian Kaler sei für Rostron eine Bereicherung. Für dessen Arbeiten hat Planningtorock schon in der Vergangenheit Musik produziert, zuletzt für das im Frühjahr 2019 im Tanzquartier Wien uraufgeführte Stück »On The Cusp«. Getroffen haben sich die beiden aber schon einige Jahre früher. »Ian schrieb mir 2015 und fragte mich, ob ich die Musik für eines seiner Stücke schreiben möchte«, sagt xier. »Seine Arbeit war damals eher abstrakt. Ich stand für das Gegenteil. Schließlich war meine Sprache schon immer direkt.« Aber gerade diese Kombination aus körperlicher Abstraktion und sprachlicher Direktheit habe für beide funktioniert. Außerdem schaffe es Kaler, mit seinen Stücken eine Geschichte zu erzählen. »Das ist wichtig für mich, weil ich dasselbe versuche«, sagt Rostron. Seine abstrakte Herangehensweise helfe paradoxerweise, xiese eigenen Ideen auf eine unmittelbarere Weise zu präsentieren als zuvor. »Ich benutze seit meinen ersten Auftritten performative Elemente und fühle mich dadurch auf der Bühne immer sehr groß. Das können zum Beispiel Helme aus Karton sein, oder Prothesen, die ich mir aneigne.« Ausschlaggebend dafür sei ein Konzert gewesen, das Rostron kurz nach ihrem Umzug vom nordenglischen Bolton nach Berlin im Jahr 2000 besucht habe. »Ich kann mich gut daran erinnern, als ich Peaches das erste Mal live sah. Das war im Berliner Ostgut [Vorgänger des heutigen Berghains; Anm.]. Es war eine unfassbar wilde, aber gleichzeitig nahbare Show, die mich wirklich umgehauen hat. Sie hatte keine großen Showeffekte. Aber es war unglaublich, wie sie ihre Inhalte ans Publikum vermittelte«, sagt xier. »Diese DIY-Punk-Attitüde beeinflusste mich extrem.«
Rostron lernte, xiesen Körper zu lieben – auch durch Ian Kaler, der xiem durch seine Arbeit ein anderes, neues Körpergefühl vermittelte. »Mein Körper ist wie ein Ort, der Geschichten in sich trägt, und ich singe von ihm – um diese Geschichte zu erzählen, ihnen Raum zu geben«, sagt xier. Er werde dadurch zu einem Kanal, der mit Geschlechterstereotypen breche und für Irritation sorge. Viele Leute haben das zu Beginn nicht verstanden. Sie meinten, Rostron verstecke sich dahinter. »Aber das stimmt nicht«, sagt xier. »Ich hab’ mir einen verdammten Kartonhelm auf den Kopf gesetzt, um meinen Körper zu erweitern und meinen Texten ein anderes Gewicht zu geben – weil es einen Unterschied macht, wie mich das Publikum wahrnimmt«, sagt Rostron. »Mein Gesicht verwandelt sich, wenn ich eine Nasenprothese trage, aber ich verstecke mich nicht. Ich mache damit nur meine Geschlechter sichtbar.« Eine Veränderung, die das Publikum natürlich nur auf Konzerten zu sehen bekommt. Viel direkter sind daher die Veränderungen, die Planningtorock »Queering Sonic« nennt. »Ich interessiere mich in meiner Arbeit für die menschliche Stimme und wie man sie verändern und einsetzen kann, um etwas ganz Bestimmtes zu vermitteln«, sagt xier. Schließlich gehe es darum, sich Klang anzueignen, ihn sich also gewissermaßen zu eigen zu machen. Es gehe aber auch darum, Klänge zu erzeugen, die vermitteln können, wie man sich fühlt und wer man ist, so Rostron. »Verändere ich meine Stimme mit Effekten, wird eine weitere Stimme – meine authentische – hörbar. Gleichzeitig muss ich aber meine Stimme nicht unbedingt verändern, um sie authentisch zu machen. Singe ich normal, hört man meinen Dialekt, man hört, woher ich komme und zu welcher Schicht ich gehöre. Ich habe gelernt, dass auch das eine authentische Stimme ist, die ich teilen muss.«
Musik, die Leben rettet
Planningtorock nutzt Technologie in xieser Musik, um Raum zu schaffen und ihn zu besetzen. Das sei ein feministischer – oder zumindest antipatriarchaler Ansatz für xien. »Als ich anfing Musik zu machen, benutzte ich verschiedene Software. Mit ›W‹ hab’ ich mich sehr für analoge Aufnahmen interessiert. Aber es war teuer und zeitaufwendig. Bei ›All Love’s Legal‹ wollte ich schneller und effizienter sein, weil ich Geld verdienen musste. Seitdem produziere ich vollständig mit digitaler Software. Ich liebe die Zugänglichkeit, ich liebe, dass jeder es benutzen kann. Ich liebe die Grenzenlosigkeit davon. Das infiltriert wirklich jede patriarchale Kontrolle, aber auch den Versuch, Menschen davon abzuhalten, Musik zu machen. Es ist wirklich revolutionär.« »Powerhouse« fängt dieses revolutionäre Potenzial ein. »Ich suchte nach einem Weg, über die Menschen zu sprechen, die mir am meisten bedeuten: Meine Mum und meine Schwester. Es war gleichzeitig aber auch eine Therapie, mich von schmerzhaften Dingen aus meiner Vergangenheit zu heilen. Über diese speziellen Themen Songs zu schreiben und das Feedback der Leute zu bekommen, hat auf jeden Fall zu diesem Heilungsprozess beigetragen.« Heute würden xien viele Leute kontaktieren, um xiem zu sagen, dass xiese Songs ihnen das Gefühl geben, endlich über ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Körper und ihre eigene Identität reden zu können, sagt Rostron und ergänzt, dass es dabei um gemeinsames Einfühlungsvermögen gehe. »Ich fühlte mich sehr verwundbar, als ich ›Powerhouse‹ aufnahm, und noch verwundbarer, bevor ich es veröffentlichte. Jetzt fühle ich mich dadurch so gestärkt. Das Album hat mir das Leben gerettet.«
Diese lebensrettende Ermächtigung möchte Jam Rostron in xiese »Musical Show« einfließen lassen. Niederschwellig, mit vielen verschiedenen Einflüssen, um das Publikum an die Hand zu nehmen. Denn »das ist die Power der Musik. Du schreibst ein Lied. Es gehört dir, aber andere Leute hören es und eignen es sich an, indem sie ihre eigene Geschichte damit verbinden und sich verstanden fühlen.« Rostron erzählt mit aufgeregter Stimme, wie viel Aufmerksamkeit und Liebe das Publikum xiem und allen Tänzer*innen beim letztjährigen Debüt in der großen Halle des Berghains entgegengebracht haben. »Die Leute waren so offen zu fühlen, so respektvoll und berührt – und sie berührten mit ihrer Rührung uns. In diesem Moment fühlte es sich an wie eine Familie, die wir in diesem riesengroßen Wohnzimmer gegründet haben.« Und dieses Wohnzimmer kommt am 2. August nach Wien.
Die österreichische Erstaufführung der »Powerhouse Musical Show« findet am 2. August 2019 im Museumsquartier (Halle E) statt.