Angefangen hat alles im Zimmer von Lady Lykez’ älterem Cousins Wesley: »Er traf sich oft zuhause mit Freunden, damit sie ihre MC-Sets üben konnten. Ich war meist das einzige Mädchen in der Runde und schaute ihnen dabei zu, wie sie ihre Reime spuckten. Ich wollte das auch können und so gab mir Wesley irgendwann seine Texte. Die waren sehr Oldschool, etwa ›Spin with the 360, I see to get you crazy.‹« So dauerte es nicht lange und Lykez begann, ihre eigenen Texte zu rappen.
Die Jugendzentren Londons spielen nach wie vor eine wichtige Rolle für die Musikkultur in der Stadt. »Für uns war es der Ort, an dem wir unsere Fähigkeiten als MCs entwickeln konnten. Dort konnten wir die Texte, die wir zuhause geschrieben hatten, ausprobieren und versuchen, einen Reload zu bekommen. Man musste ja sehen, ob man die Texte gut rüberbringt und ob der Flow passt. Das waren unsere Übungsstunden.« Mit der Machtübernahme der Tories ab 2010 wurden die Mittel für Jugendarbeit in manchen Bezirken um drei Viertel gekürzt und landesweit mussten in der Folge über 600 Jugendzentren schließen1. Lady Lykez gehört hingegen noch einer Generation an, die von dieser Infrastruktur profitierte. »Aus diesem Grund mache ich Workshops mit jungen Menschen im Osten Londons. Wir hatten das ja immer: Dort gab es Equipment und man konnte einfach hingehen, um zu üben. Viele Künstler*innen, die heute sehr bekannt sind, kenne ich noch aus den Jugendclubs.«
Let’s clash
Zu dieser Zeit hatte Rap in Großbritannien noch einen amerikanischen Zungenschlag. »Abseits von Eminem, Busta Rhymes oder Missy Elliot bekamen wir damals nicht viel zu hören.« Dizzee Rascals »Boy In The Corner« sollte die Spielregeln jedoch grundlegend ändern. Die Einzigartigkeit dieses 2003 erschienenen Albums ergibt sich aus der Mischung von jugendlich-trotzigem Rap, messerscharfen Beats und einem Umgang mit Leerstellen im Raum, der von minimalistischen Komponisten wie Philip Glass oder Steve Reich inspiriert ist2. Für Lykez steht jedoch ein ganz anderer Aspekt im Mittelpunkt: »Durch Dizzee wurde uns bewusst, dass es okay war, unseren britischen Akzent zu benutzen. Wir konnten endlich so rappen, wie wir sprachen.« Seitdem hat sich dieses Verhältnis freilich umgekehrt, denn auch wenn die Auswirkungen des Pepper-Pig-Effekts auf die amerikanische Jugend geringer sind als ursprünglich angenommen3, stoßen britischer Road-Rap und UK Drill auch jenseits des Atlantiks auf großes Interesse.
Neben US-amerikanischem Rap ist vor allem der Bezug zu jamaikanischer Musik bei Lady Lykez unüberhörbar. »An Grime mochte ich immer schon die starken Dancehall-Einflüsse. Sogar die Beats kommen eigentlich aus dem Dancehall. Und wie alle anderen auch liebe ich Clashes.« Während sich diese schon früh im Grime zu etablierten begannen, sind Wettkampfe zwischen den MCs heute ein fixer Bestandteil der Rapkultur. Am Anfang standen DVD-Reihen wie die vom Londoner Grime-MC Jammer organisierte »Lord of the Mics«-Serie, bei der 2015 auch Lykez einen Auftritt hatte. In den letzten Jahren wurden DVDs zunehmend von YouTube verdrängt, das den Fans einen direkteren Zugang bietet. Clashes seien aber schon immer ein wichtiges Element der Popkultur gewesen, meint Lykez: »Als ich jung war, wollte ich allen mein Talent zeigen. Ich bin also zu irgendwelchen Typen auf der Straße gegangen und meinte: ›Rappst du? Come on, let’s clash!‹«.
Gender gap
Ohne Selbstbewusstsein kommt man als Rapperin heutzutage nicht weit – mit allerdings auch nicht immer. Angesichts der Karrieren von ehemaligen Mercury-Prize-Gewinnerinnen wie Ms. Dynamite oder Speech Debelle ist in den Medien oft von einer gläsernen Decke die Rede, die es Musikerinnen nicht erlaubt, ein erfolgreiches Album in eine nachhaltige Musikkarriere zu übersetzen4. Für Lykez stellt die niedrige Erwartungshaltung, mit denen sich Musikerinnen oft konfrontiert sehen, ein großes Problem dar: »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Leute zu mir sagten: ›Rah, für ein Mädchen bist du wirklich gut.‹ Aber wenn du in etwas gut bist, dann sollte dein Geschlecht keine Rolle spielen! Zu Beginn meiner Karriere hatten wir auch große Probleme, Auftritte zu organisieren. Es war immer nur ein Platz für eine Musikerin vorgesehen: ›Sorry, wir haben bereits eine Frau im Line-up oder auf unserer Playlist.‹ Zwar hat Lykez den Eindruck, dass sich die Situation in letzter Zeit leicht verbessert hat, die Musikindustrie sei aber immer noch männlich dominiert: »Was immer funktioniert, ist das Spiel mit einem sexy Image. Das gilt für Rapperinnen wie Nicki Minaj genauso wie für andere vor oder nach ihr.« Zudem kämen viele Männer mit dem selbstbewussten Auftritt junger Frauen nicht zurecht: »Das ganze ›good for a girl‹-Ding kommt auch daher, dass sich Jungs schnell eingeschüchtert fühlen. Wenn man harte Reime spuckt, dann ist die Reaktion oft: ›Sei ein braves Mädchen, entspann dich.‹«
Von der Schule ins Studio
Wie nur wenige Rapper*innen versteht es Lady Lykez, die Energie der Clashes auch in Studioproduktionen zu übersetzen. Dies zeigte sich bereits bei »Kill All A’ Dem«, einem ihrer frühen Stücke, das sie vor über zehn Jahren gemeinsam mit den befreundeten MCs Chipmunk und Ghost aufgenommen hat: »So ist Grime einfach, pure Energie. Kill all MCs, macht sie alle fertig.« In diesen Wochen erscheint auf Hyperdub eine EP aus ihrer Zusammenarbeit mit Scratcha DVA, der bereits für das Instrumental von »Kill All A’ Dem« verantwortlich zeichnete. »Als ich 15 war, da gab es dieses Studio in Mile End, in das ich nach der Schule öfters ging. So traf ich Scratcha.« Zwar gingen beide in der Zwischenzeit getrennte Wege, als sie sich jedoch wiedertrafen, stimmte die Chemie sofort: »Er meinte, ob wir eine EP zusammen machen sollen, und ich antwortete: ›Okay, probieren wir es‹. Scratcha ist einfach dope.«
Bereits als Schülerin nahm Lykez Schlagzeugunterricht, später folgten Theaterstunden. »Meine Mutter sorgte dafür, dass meine Energie irgendwohin ging, denn ich war ein sehr hyperaktives Kind,« sagt Lykez. »Heute bin ich ihr dafür sehr dankbar, denn sonst wäre ich vielleicht auf die schiefe Bahn geraten. Zwar geriet ich hin und wieder in Schwierigkeiten, hatte aber immer eine Perspektive. Eines Tages wollte ich ein Star sein und das gab mir den Antrieb. Junge Menschen brauchen eine Perspektive, etwas, auf das sie hinarbeiten können.« Mittlerweile hat sich aus der jungen Rapperin eine Allround-Künstlerin entwickelt, die auch andere Musiker*innen produziert: »Ich habe mir zuhause mein eigenes Studio aufgebaut und muss so nicht immer in wechselnden Studios produzieren und aufnehmen. Manchmal gehe ich aber trotzdem noch gerne in andere Studios, denn jeder Ort hat seine eigene Energie. Es war jedenfalls ein weiter Weg von damals, als ich noch in meiner Schuluniform vor dem Mikrofon stand.«
Auf ein Genre möchte sich Lykez nicht festlegen lassen: »Wenn man aus UK kommt und rappt, dann läuft deine Musik automatisch unter Grime. Ich liebe Grime, auch weil ich damit aufgewachsen bin. Aber ich produziere ganz unterschiedliche Sachen, abhängig davon, welche Gefühle ein Song in mir auslöst. Am Ende ist für mich alles einfach Musik.« Und wo sieht sie sich in zehn Jahren? »Boy, in zehn Jahren – Superstar. Megastar. Drei Häuser, Immobilien in verschiedenen Ländern … yeah man, Millionärin.«
Lady Lykez’s »Muhammad Ali EP« (prod. Scratchclart) erscheint Ende Mai 2019 auf Hyperdub Records.
1 Einen Überblick über die Auswirkungen der Sparmaßnahmen in der Jugendarbeit und gezielter Maßnahmen zur Gentrifizierung im Vorfeld der Olympischen Spiele in London 2012 findet sich auf den Seiten 217ff in: Dan Hancox: »Inner City Pressure. The Story of Grime«, London: William Collins 2018, 338 Seiten, 28 Euro. https://www.harpercollins.co.uk/9780008257132/inner-city-pressure
2 ebd., Seiten 74–77 über die Anfänge von Dizzie Rascal und die Unterstützung durch seinen Lehrer Tim Smith.
3 vgl. Adrian Horton: »Telling porkies: no, Peppa Pig is not giving American kids British accents« in: »The Guardian«, 14 Februar 2019. https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2019/feb/14/peppa-pig-american-children-british-accents
4 vgl. Sam Wolfson: »Rap and the gender gap: why are female MCs still not being heard?« in: »The Guardian«, 9. September 2017. https://www.theguardian.com/music/2017/sep/09/rap-gender-gap-why-are-female-mcs-still-not-being-heard
Links:
https://twitter.com/ladylykez
https://www.youtube.com/channel/UCXjSYjB2h5IDvsHK11U-vwQ
https://hyperdub.net