Yemen Blues © Zohar Shitrit
Yemen Blues © Zohar Shitrit

Kollektive Prozesse, gespiegelt im Programm

Salam Orient hat erstmals einen Gastkurator: Gemeinsam mit Orwa Saleh, dem in Wien beheimateten syrischen Meister auf der Oud, wird mit der bereits 21. Ausgabe von 4. bis 14. Mai 2023 ein fulminanter Reigen diasporischer Klänge über Wien gespannt.

Das 2002 von Norbert Ehrlich gegründete Festival Salam Orient widmet sich beharrlich Kunst und Kultur des Mittleren und Nahen Ostens und arabisch geprägter Regionen. Golnar Shahyar, Tara Mehrad und Aïda Nosrat werden als Voices of Iran auftreten, das Ensemble Constantinople wird ein spirituelles Sufi-Musik-Hochamt geben, Renaud García-Fons Strings zum Atmen bringen, Özlem Bulut anatolische Musik zeitgenössisch interpretieren und der israelische (Yemen Blues) sowie palästinensisch-jordanische (El Morabba3) Musik-Underground im Flex Live-Gigs spielen. Katrin Pröll, seit 2017 Leiterin und gemeinsam mit Martina Laab Co-Kuratorin des Festivals, hat für das Musikprogramm 2023 Orwa Saleh als Gastkurator eingeladen und führt im E-Mail-Interview Näheres zum gemeinsam gestalteten Konzertreigen aus. 

Voices of Iran: Golnar Shahyar, Tara Mehrad, Aïda Nosrat © David Kadoule, Ina Aidogan, Julien Hay

skug: Das Mullah-Regime des Iran treibt den iranischen Staatsbürger*innen die Religion aus. Selbst grüne Politiker glaubten, dass sich mit scheinbar Liberalen wie Khatami, einem »Geistlichen«, eine Verbesserung der niederträchtigen Umstände erreichen ließe. Die theokratische Diktatur ist auf der Unterdrückung der Frauen und von Minderheiten aufgebaut und müsste nicht nur aufgrund des Vernichtungswillens gegenüber Israel wie ein Paria-Staat behandelt werden, mit Strafandrohungen des Menschenrechtsgerichtshofes, wie dies immerhin gegen die russischen Politiker, die Kriegsverbrechen anzetteln, mittlerweile geschieht. Warum passiert das im Fall Iran nicht? 

Salam Orient ist ein Kulturfestival. Es beschäftigt sich mit Musik, Theater, Literatur, Performance, Bildender Kunst. Künstlerinnen und Künstler verarbeiten außergewöhnlichste Situationen. Dies möchten wir dem Publikum in Wien zeigen. Die Menschen sind nicht nur Opfer, sie sind handelnde Wesen, Kollektive, oft ganze Bewegungen, die die Gesellschaft verändern. Wir haben es im Iran und in der iranischen Diaspora mit einer lebendigen Kulturszene zu tun, die mit der Welt im Austausch steht. Diese Prozesse spiegeln sich in unserem Programm wider.

Jedenfalls, Sanktionen direkt in die Staatsspitze hinein würden den Protesten mit dem denkwürdigen Slogan »Woman, Life, Freedom« moralisch supporten. Die Uraufführung »Voices of Iran« im Theater Akzent vereint die Sängerinnen Golnar Shahyar, Tara Mehrad und Aïda Nosrat und ist eine Auftragsarbeit für Salam Orient, die im Hintergrund das Berufsverbot für musizierenden Frauen im Iran thematisiert. Was ist genau zu erwarten?

Das Konzert der Voices of Iran gibt der Protestbewegung »Woman, Life, Freedom« hierzulande eine Stimme. Ich möchte dazu Golnar Shayars Statement anlässlich der Nominierung ihres neuen Albums »Tear Drop« für den Deutschen Jazz Preis teilen, das sehr gut zum Ausdruck bringt, was es bedeutet, diesen Kampf zu führen: 

»The whole time I was thinking about you! I was thinking about our struggles and our conscious decision to get up every morning and continue to try! Even though we might have been defeated the day before, and the day before that and the day before that…! To continue to fight to be free, to think free, to move free and to live free! I know how much life and longing is in the beating of your hearts! How many tears behind your eyes, how many screams in your throat, how much determination in your will! Even if you are scared or tired! I dedicate this nomination to the ones who don’t lose hope, to the ones who despite it all don’t stop trying! I dedicate this nomination and #teardrop to #womenlifefreedom, to all the free thinkers out there who seek a free life for themselves and for the others!«

Die drei Sängerinnen kommen aus sehr unterschiedlichen musikalischen Richtungen und werden sicherlich eine große musikalische Bandbreite präsentieren. Das Programm dieses Konzerts wird in einer mehrtägigen Künstler*innen-Residenz erarbeitet und bleibt somit bis zur Uraufführung am 14. Mai im Theater Akzent eine Überraschung. Dass die herausragenden Musiker*innen für einen krönenden Abschluss des 21. Salam Orient Festival sorgen werden, davon bin ich überzeugt und ich freue mich schon sehr darauf.

Eine Fluchtgeschichte ist auch jene von Maulana Dschalal ad-Din aka Rūmī, der 1207 vermutlich im afghanischen Balch geboren wurde. Seine Familie floh aus der historischen Region Chorasan vor den Mongolen und Rumi steht als Bezeichnung für Anatolien, wo Rumi hauptsächlich in Konya lebte. Dort entdeckte er den Sufismus und wurde einer der berühmtesten persischsprachigen Poeten. Die Liebe war ihm die Hauptkraft des Universums. Wenngleich Rumi damit jene zu Gott meinte, kann Rumis Sufi-Spiritualität durchaus als weltlich erlebt werden. Für mich persönlich ist die Wirkung entfernt dem Gospel ähnlich. Kraft durch Mystik, geerdet durch Gesang. Welche Bedeutung hat Sufismus, von Atatürk verboten, heute noch im Nahen Osten bzw. in bei nach Österreich geflüchteten Exilant*innen aus dem persischen/arabischen Raum? 

Das ist ein sehr komplexes Thema, zu dem man wohl eine*n Expert*in befragen muss. Der Sufismus ist sicherlich von vielen verschiedenen Seiten benutzt worden und hat auch eine politische Dimension. Beim Festival beschäftigen wir uns mit Musik, Kunst und Kultur, die eine universelle Kraft hat und somit auch eine spirituelle Seite haben kann. Das Konzert »In the footsteps of Rumi« von Kiya Tabassian und Ghalia Benali am 9. Mai im ORF RadioKulturhaus stößt auf große Begeisterung beim Festivalpublikum. Die Ankündigung des Konzerts hat ein unglaublich positives Feedback ausgelöst – sowohl bei Österreicher*innen als auch Migrant*innen.

Der iranische Musiker Kiya Tabassian hat in im kanadischen Montréal das Ensemble Constantinople ins Leben gerufen. Wohl nicht zufällig ist der Name auf die Hauptstadt des oströmischen Reiches bezogen, die religiöse und ethnische Vielfalt zuließ. Musikalischen Traditionen und zeitgenössischen Ästhetiken aus dem Mittelmeerraum bis Persien überlagern sich »In the footsteps of Rumi« und im Zentrum steht die tunesisch-belgische Sängerin Ghalia Benali. Mit ihrer begnadeten Stimme wird sie Rumis zeitlose, mitreißende Gedichte aus dem 13. Jahrhundert ins Heute beamen. Wird auch daran gedacht, dem Publikum Übersetzungen der spirituellen Poeme Rumis darzubieten? 

Ja, das war mir sehr wichtig, diese Informationen gut aufzubereiten, da Kiya Tabassian selbst nur wenig Bühnen-Moderation zu den Stücken machen wird. Deshalb haben wir ein Abendprogramm zusammengestellt, in dem Kiya Tabassian die Geschichte Rumis beschreibt und auf seine musikalische Herangehensweise an Rumis Werke als künstlerischer Leiter gemeinsam mit Ghalia Benali als Performerin eingeht. Darüber hinaus wird es einige der vorgetragenen Gedichte in englischer Übersetzung im Abendprogramm geben.

Renaud García-Fons wird mit fünfsaitigem Kontrabass »The Breath of Strings« in Wien erstaufführen. Besteht hier nicht die Gefahr, dass die Begleitmusiker*innen an Flamenco-Gitarre, Kemençe (gestrichene Kurzhalslaute) und einem Kanun (Kastenzither) sowie Streichquartett sich zu sehr in einem sogenannten Weltmusik-Crossover verlieren? 

Renaud García-Fons ist eine lebende Legende am Kontrabass. Er wird weltweit nicht nur vom Publikum, sondern vor allem auch von Musiker*innen aller Genres für sein innovatives Spiel hochgeschätzt. Mit »The Breath of Strings« hat er sein drittes Werk einer Trilogie geschaffen, das mit dem Duo Silk Moon in Zusammenarbeit mit Derya Türkan seinen Anfang genommen hat. Derya Türkan (Kemençe), Serkan Halili (Kanun) und Kiko Ruiz (Flamenco-Gitarre) sind eigenständige Solokünstler und nehmen diesen Raum im Projekt »The Breath of Strings« auch für sich ein. Die Musiker*innen des Streichquartetts sind Mitglieder des Philharmonischen Orchesters von Radio France und sorgen für eine strenge Kammermusik im westlichen Stil. Der fünfsaitige Kontrabass von Renaud García-Fons, ein eigenständiges Soloinstrument, dient dank seiner Klangvielfalt und seiner verschiedenen Spielweisen als echtes Bindeglied zwischen diesen verschiedenen musikalischen Welten, aber auch zwischen geschriebener und improvisierter Musik. Dieses Werk ist hörbar das Ergebnis eines Schaffensprozesses, der die Authentizität von Spiel, Stil und Kultur respektiert. Der unglaubliche Reichtum an Klangfarben der verschiedenen Instrumente ist eine Quelle der Inspiration, die sich mit jedem Stück erneuert. Die Musiker*innen des Streichquartetts sind Mitglieder des Philharmonischen Orchesters von Radio France und sorgen für eine strenge Kammermusik im westlichen Stil. Der fünfsaitige Kontrabass von Renaud García-Fons, ein eigenständiges Soloinstrument, dient dank seiner Klangvielfalt und seiner verschiedenen Spielweisen als echtes Bindeglied zwischen diesen verschiedenen musikalischen Welten, aber auch zwischen geschriebener und improvisierter Musik. Der Klang von »The Breath of Strings« drückt einen zutiefst menschlichen Wunsch nach Teilhabe und Austausch zwischen den Kulturen auf Augenhöhe aus. Ich könnte mir kein schöneres Eröffnungskonzert wünschen.

Inwiefern sind die Texte der jordanisch-palästinensischen Band El Morabba3, die am 12. Mai im Flex Café gastieren wird, relevant, und aus welchem Grund sind die Musiker aus Amman nach Berlin übersiedelt? 

Als die jordanisch-palästinensische Band El Morabba3 im Jahr 2009 zusammenfand, also ca. eineinhalb bis zwei Jahre vor dem Arabischen Frühling, traf sie mit ihren sozialkritischen Texten den Nerv einer ganzen Generation, die sich mit Hungerstreiks gegen eine instabile Region auflehnte und nach Musik sehnte, die ihre Gedanken, Sorgen und Wut als Lebensrealität zum Ausdruck bringt. Mit ihren gesellschaftspolitischen Texten und einem neuen bahnbrechenden Sound wirbelten sie die arabische Independent-Szene ordentlich auf und erlangten innerhalb kürzester Zeit große Popularität im gesamten arabischen Raum. Vermutlich eint Musiker*innen der Post-Punk- und Rockszene der Wunsch, nach Berlin zu gehen, um dort in einer offenen und inspirierenden Künstler*innen-Szene die eigene Musik weiterzuentwickeln. So war es jedenfalls bei El Morabba3. Zunächst pendelten die beiden Musiker zwischen Amman und Berlin für verschiedene Kollaborationen und vor allem auch für die Entwicklung ihrer eigenen Musik hin und her. Seit einigen Monaten arbeiten sie nun fix von Berlin aus.

skug holte 2015 den israelischen Musiker/Künstler Ravid Kahalani von Yemen Blues als Solo Artist nach Wien. Damals improvisierte er mit Trompeter Franz Hautzinger und verlieh einigen seiner undergroundigen Songs mit der Schlagzeugerin Maria Petrova (Madame Baheux, Wiener Tschuschenkapelle) und Didi Kern rauen Glanz. 2023 kommt er mit Yemen Blues am 11. Mai ins Wiener Flex. Der Sound wird wohl rau bleiben?

Kurz nach ihrem internationalen Durchbruch waren Yemen Blues 2011 als gesamte Band auch beim Klezmore Festival in der Sargfabrik live zu erleben. Seitdem ist viel Zeit ins Land gezogen, die Band tourt jetzt als Quartett und spielt nach wie vor weltweit auf den größten Festivalbühnen. Vom Sound her ist Yemen Blues rau wie eh und je. Zu Salam Orient kommt die Band mit komplett neuen Songs.

Schlussrunde: Mit welchen Musiker*innen wird Özlem Bulut, Musikerin zweiter Generation, ihr drittes Album präsentieren? Und wie soll die Festivalzentrale funktionieren – die Aufführungsorte und Ausstellungen sind ja großzügig über Wien verteilt?

Özlem Bulut ist in Ostanatolien aufgewachsen, wo sie sich umgeben von traditioneller Musik schließlich für ein klassisches Gesangsstudium entschied und dieses später in Wien fortsetzte. In Wien ist sie auf den Komponisten und Pianisten Marco Annau getroffen, der ihre Visionen von einer zeitgenössischen Interpretation der anatolischen Musik zum Leben erweckt hat. Die beiden gründeten die Özlem Bulut Band und arbeiten seither zusammen. Weitere Bandmitglieder sind Andrej Prozorov (Sopransaxophon), Oscar Antoli (Klarinette), Marko Ferlan (Bass) und Jörg Mikula (Schlagzeug). Ihr drittes Album »Ayna«, auf dem unter anderem die korrupte Baupolitik in der Türkei kritisiert wird, hat mit dem verheerenden Erdbeben und seinen katastrophalen Folgen eine ungeahnte und erschreckende Aktualität bekommen.

Die Festivalzentrale ist ein langgehegter Wunsch, der bisher einerseits an der passenden Location, andererseits an der mangelnden Kapazität von Salam Orient gescheitert ist. Der Oud-Spieler Orwa Saleh, der schon lange ein Freund des Festivals ist und dieses Jahr auch als Gastkurator das Musikprogramm mitgestaltet hat, kam mit einer ganz ähnlichen Idee auf mich zu. Er wollte begleitend zum Festivalprogramm einen Ort schaffen, wo lokale Künstler*innen, das Publikum und die internationalen Künstler*innen des Festivals in einem offenen und gemütlichen Rahmen zusammentreffen. Das hat genau unserer Vorstellung einer Festivalzentrale entsprochen und als Orwa Saleh mit dem Spektakel Wien im 4. Bezirk noch den idealen Ort gefunden hat, war schnell klar, das wird unsere neue Festivalzentrale. Wien ist von der Größe her überschaubar und hat ein gutes öffentliches Verkehrsnetz und letztendlich sind ja alle Veranstaltungen zwar großzügig, aber doch recht zentral über Wien verteilt. Also ich mache mir jedenfalls keine Sorgen, dass die Leute nicht in die Festivalzentrale finden, die dieses Jahr zunächst an drei Festivaltagen von 4. bis 6. Mai mit Jam Sessions, DJ Line und Kulinarik aktiv sein wird.

Link: https://www.salam-orient.at/

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