Es folgt ein Zwei-Tage-Ausschnitt aus dem sechstägigen Marathon, relativ subjektiv die Vorlieben des Autors dieser Zeilen widerspiegelnd: Schwerpunkt soziale Devastierung, ethnografischer Film, etwas Geografie und …
Soziale Wunden in den Umbruchsländern
Einige Filme des Festivals, das ja vor allem auch eines für den TV-Markt ist, waren bereits auf ARTE zu sehen, so z.B. das grandiose »Balada O Koze«/ »Der Weg der Ziege«. Geiße dienen hier sowohl als Balsam auf die Seele von sozialen Außenseitern, als auch als Milch gebende Überlebenshilfe. Bartek Konopka schildert sehr einfühlsam, dass Zuwendung zu einem Tier die Lebensqualität steigert, und vergisst auch nicht, die grazile Anmut der »Meckerer« in Szene zu setzen. Und wirklich: polnische Dokumentarfilmer haben eine eigene Handschrift, setzen ihre Vorhaben in wunderschöne bis erschütternde Bilder um. So entwirft Maria Zmarz-Koczanowicz in »Uhli/Coal«, einem Drama um Kohlendiebe in einer schlesischen Industriestadt, ein Szenario, das die Mühsal und Gefährlichkeit des Tagewerks der Ausgesteuerten und deren Kinder schonungslos aufzeigt. Jugendliche wurden von Aufpassern einer Kohlenmine in den Tod getrieben (Tatort Schienenstränge) und selbst der Pfarrer kannte keine Gnade und schimpfte sie bei der Totenmesse Stehlende. Deprimierende Bilder in einer ausweglos scheinenden Morbidezza, aber mit einem nicht allzu düsteren Licht gibt die Regisseurin den oft arbeitslosen Existenzen am Rand der Gesellschaft, die ihre Ohnmacht artikulieren, ihre Würde zurück. Gleich darauf die Erholung: »Kúra/The Cure« ist wie ein Einblick in ein Kuriositätenkabinett. Ein Zug fährt nach Aleksandrów. Dieser Ort birgt ein Sanatorium, in dem vorwiegend ältere Menschen auf Rehabilitation sind. Diese teils wegen ihrer Gebrechen körperlich Gezeichneten haben sich aber ihren Humor bewahrt, und auch die Durchmischung Männer/Frauen/Alt/Jung ist für die Lachmuskeln gut. Vieles scheint inszeniert, ist es aber wohl nicht. Die Kamera evozierte wohl etwas mehr Selbstdarstellung und Maciej Cuske hat daraus eine Doku geschnitten, die einen Aufenthalt im an sich langweiligen Sanatorium zu einem fröhlichen macht. Selbst die Filme, die das Leben in so genannten Irrenhäusern dokumentieren, arbeiten mit hohem Skurilliätsfaktor. Etwa »God Plays Sax, the Devil Violin« von Alexandra Gulea. Zwar wird darin auch zwanglos gescherzt, bestürzend ist allerdings die Tatsache, dass sich die Insassen durchaus ihrer engen, perspektivlosen Existenz bewusst sind und man sich fragt, warum diese Menschen nicht in die Freiheit entlassen werden. Ganz nah ist die Kamera an den ProtogonistInnen und selbst Onanie unter Bettdecke wird erahnbar. Im Fokus des bulgarischen Streifens »Georgi and Butterflies« steht aber der Direktor eines Hauses für Geisteskranke. Andrej Paunov porträtiert einen Mann, der mit unkonventionellen Ideen die Geldknappheit überwinden will. Etwa mit einer Sojabrotfabrik und Sensation: die Patienten sollen zu Arbeitern konvertieren. Beschäftigung als Therapie, nicht der Fadesse das Kommando überlassen!
Gezeigt wurde dieser der Tristesse ausweichende Film im Rahmen des East European Forum 2004 und fungiert so als ausgezeichnetes Beispiel für eine geglückte Marktpräsentation. Das Institute of Documentary Film (IDF) ist eine Non-Profit-Organisation, die sich an unabhängige Produzenten und Autoren richtet, um diese mit Rat und Tat bei der Finanzierung, Realisierung, Promotion und Distribution eines Dokumentarfilms zu unterstützen oder zumindest Kontakte in die Wege zu leiten. Heuer waren auch einige Österreicher zu Gast, etwa Ralf Wieser (Macher von »EU XXL«) von der After Image Production mit einem Referat über den Wiener Film Fonds und das heimische Finanzierungssystem.
Ethnografische Filme
Großartig waren auch die ins Programm gestreuten Filme, die sich mit dem Alltagsleben europäischer bzw. asiatischer Landbewohner beschäftigten. So ragte aus einem Kurzfilmprogramm im Kino Dukla, das auch ein Hohelied auf weiterhin prähistorisch Stahl gießende Fabriksarbeiter sang (»Továrna«/»Fabrik« von Sergey Loznitsa aus Russland), und in »De Lana Caprina« (Regie Elena Sorokina) zwischen Urbanität und Peripherie angesiedeltes Leben in verwischt-verzerrtem Schwarzweiß zeigte, ein weißrussischer Beitrag heraus. »Kola«/»The Wheel, ebenso aus dem Jahr 2003, zeigt mit viel Witz (immer wieder wird eine Katze aus der Bauernstube rausgeschmissen) das karge Leben in einer Agrarregion. Verloren stehen die Dorfbewohner herum, ein brutal vorsintflutlicher Leichenlastwagen samt kleinem Trauerzug fährt die Durchzugstraße lang und ungerührt nimmt die jeweilige Alltagsexistenz ihren weiteren Lauf. Der Jungbauer hält sich mit Klimmzügen und weiterenTurnbewegungen auf einer Stange fit. Wie überall in postsowjetischen Staaten und besonders in Belorussia (Diktator Lukaschenko frostet möglichen Fortschritt weiterhin ein) leben die Menschen wie vor hundert Jahren. Pferdewagen sind das Um und Auf und dem das überlegenswichtige Element schöpfenden Wasserrad wird auf einem Bauerngut – immerhin keiner Kolchose – zentrale Bedeutung beigemessen. Schwarzweiß verstärkt die Rückständigkeitspatina, gleichwohl die Menschen stoisch, aber nicht unglücklich scheinen. Im Mitteleuropa-Zyklus »Between the Seas« gefielen Sándor Sillós Montagen mit s/w-Filmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die unter dem Titel »Film pro Piano (Mikrokosmos)« wiederum das Leben in der Provinz notierten. Einige Offenbarungen wie die Thematisierung von Landliebe – Hochzeitspaare auf Traktoren – regten zum Lachen an und Bela Bartoks (er war ja ein großer Feldforscher von authentischer Volksmusik) Klavierstücke waren kongeniale Ergänzung wiewohl Basis des kurzweiligen 20-Minüters.
Transsylvanien, das ja während der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zur magyarischen Reichshälfte gehörte, zählt zu den Siedlungsgebieten ungarischer Ethnien. Jedoch, egal ob Rumäne oder Ungar, die Arbeit in den Bergen der Karpaten ist hart. Ganz selbstverständlich und allein – jedoch umgeben von Kühen, Schafen, Ziegen, Hühnern und Hund – verrichtet diese der dreizehnjährige Emil in »Aranykalyiba«/ »Die goldene Hütte«. Vater oder Mutter kommen nur gelegentlich auf die Alm, um Käse ins Tal zu schaffen. Die Doku vermittelt eindringlich die Gepflogenheiten einer bäuerlichen Gesellschaft, die derart in Österreich schon längst nicht mehr existiert. Weltvergessene Erbfolgepflicht (der Junge geht nicht zur Schule) vor einem prächtigen Gebirgspanorama. Dafür bekam Zsigmond Deszö zu Recht den Sonderpreis der Jury, während Angus Reid den Preis für den besten Mitteleuropäischen Dokumentarfilm (Prämie EUR 10.000) bekam. Leider konnte ich »Prstan«/»Der Ring« (Slowenien, 2003) nicht sehen, doch fesselt schon die vom Presseteam übermittelte Thematik: »Es wird die schwindende Bedeutung der Kunst untersucht und gleichzeitig der Zerfall in den neunziger Jahren dargestellt. Filmische Odyssee eines Autors, der zwischen Schottland und Slowenien vor dem Hintergrund der unerbittlichen Realität – zu der das Leid der Arbeiter in den Goldgruben Westafrikas ebenso gehört wie das warnende Schweigen verlassener Internierungslager im europäischen Bosnien – die spirituelle Bedeutung der Reise entdeckt.«
Die Mitte Europas
Somit ist es auch naheliegend, dass »Afonka už nechce pást soby«/»Afonka will keine Rentiere mehr hüten« von Martin Ryšavý den 1. Platz unter den CZ-Wettbewerbsfilmen, die in der Reihe »Tschechische Freude« liefen, belegte. Die sibirische Gegenwart geht nicht mit den Werten des Mitteleuropäers konform und doch ist man wie gefangen in der Welt der Nomaden, wo eine junge Gereration wohl eher bereit wäre die Herbheit des Hirtenlebens, das in poetische Landschaftsbilder gebannt wird, aufzugeben. Ex aequo gewannen Vít Klusák und Filip Remunda den mit
100.000 CZK (ca. EUR 3.300,-) dotierten Preis für den besten tschechischen Dokumentarfilm 2004 mit »Ceský sen« (»Czech Dream«/»Tschechischer Traum«), und heimsten darüber hinaus auch den Zuschauerpreis dafür ein: »Der Film dokumentiert die Dreharbeiten zu einer Reportage über einen fiktiven Hypermarkt und über die für ihn gemachte Werbung. Ein filmisches Phänomen, das es geschafft hat, nicht enden wollende Diskussionen über die Ethik des Dokumentarfilms zu entfachen. Abbildung eines breiten gesellschaftlichen Hintergrunds, die durch die detailgetreue Beobachtung der soziologischen und psychologischen Aspekte menschlicher Reaktionen auf die virtuelle Welt der Werbung und der Medien abgerundet wird …«
Persönlich gefiel mir allerdings das Porträt einer tschechischen Regisseurin von Jasmina Blazevic am besten. »Cesta«/»Journey« klammert persönliche Befindlichkeiten, und schon gar nicht diejenigen gegenüber Familienmitgliedern, keineswegs aus. Ein Kunstgriff, der so die leichten Verrücktheiten der alten Grande Dame ins mildere Licht des Lächelns rückt. Und der Vorfilm von Jiri Menzel fasst gar ein ganzes Leben in zehn Minuten. Bei leicht absurden Handlungen stellt sich das Überblenden des alternden Gesichts/Körpers eines Schauspielers aus seinen sämtlichen Karrierephasen als Clou heraus. Ewiges Leben gibt es nicht, und gerade »Okamzik«/»The Instant« mahnt uns zeitlos daran.
Grenzen markierten zahlreiche Streifen, auch menschenrechtliche: Etwa Patric Jean aus Belgien in »Might Is Right«, worin staatliche Autoritäten gegenüber maghrebinischen Exilanten Recht, das zum moralischen Unrecht wird, vor Gnade ergehen lassen. Unbedingt erwähnenswert sind noch drei Filme, die leider zur selben Zeit wie die österreichische Produktion »Across The Border« programmiert wurden. »89mm from Europe«, eine Arbeit von Marcel Lozinski fürs polnische Staats-TV aus dem Jahre 1993, zeigt in 12 Minuten, wie in Brest an der polnisch-weißrussischen Grenze die aus dem Westen kommenden Waggons auf 89 mm breitere Spur gebracht werden. Insofern also existiert die Sowjetunion doch weiter und Lozinski gelingt es, den Kontext Reisende treffen auf Schwerarbeiter mit einiger Leichtigkeit zu präsentieren. Hingegen ist »Cizinec«/»Stranger« des Slowaken Milan Balog ein detailgenaues Porträt eines gestrandeten Zuwanderers und steht »Stred«/»The Center« schlechthin für die Mitte Europas. Zahlreiche Orte von Braunau in Österreich bis Rachiv in der Westukraine unweit der rumänischen Grenze reklamieren der Mittelpunkt Europas zu sein und Stanislaw Mucha macht daraus ein äußerst bizarres Roadmovie. Wieder einmal findet der Regisseur vor Ort äußerst auskunftsfreudige Personen, die nicht um Vorwitz, Sarkasmus wie Hinterfotzigkeit verlegen sind. Schließlich verliert sich der Film im Dickicht eines litauischen Urwalds – dort, wo der Mittelpunkt Europas tatsächlich sein muss.
Einige Highlights mehr hätte es gegeben und gerne vernachlässige ich nicht des Veranstalters statistisches Resümee: 1.400 akkreditierte Teilnehmer, Gäste und Journalisten. Über 170 Filmproduktionen und Rahmenveranstaltungen in drei Vorführsälen. Verkauf von über eintausend Einzeleintrittskarten.
Außerdem verweise ich auf weitere unentbehrliche Tätigkeiten des Festivals:
Umfassende Publikationen
Kontinuierliche Verarbeitung der kinematografischen Gattung Dokumentarfilm sowohl auf historischer als auch theoretischer Ebene. Das Festival veröffentlicht alljährlich:
* die Dokumentarfilmrevue »do«, die kritische und theoretische Reflektionen zum Dokumentarfilm beinhaltet. Die diesjährige, über dreihundert Seiten umfassende Publikation von Texten im Original und in der Übersetzung präsentierte umfangreiche Sektionen zum Schaffen von Jorgen Leth, Santiago Álvarez, Jean Rouch und Alexander Kluge. Sie befasste sich mit dem Phänomen der Filme von Michael Moore, auf der kritischen Ebene wurde East Silver, eine neue Aktivität des Festivals, miteröffnet, ferner wurden in ihr theoretische und kritische Texte zum Dokumentarfilm veröffentlicht.
*die Festivalzeitung Dok.revue. Neben täglichen Beiträgen zum Festivalgeschehen erschien auch eine Sonderausgabe mit Interviews mit den Autoren der Filme, die in der Wettbewerbssektion Tschechische Freude gezeigt wurden.
*einen Autorenkatalog
East Silver
Das erstmals stattgefundene Projekt East Silver, das in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Dokumentarfilmfestival und dem Dokumentarfilminstitut realisiert wird, hat sich als unverzichtbarer und funktionierender Markt bewährt, der in Form eines Katalogs und einer Videothek den wenig bekannten und wenig präsentierten Bereich der neuesten Dokumentarfilme aus den Ländern Mittel- und Osteuropas erfasst. Im Laufe des Festivals wurde die zur Verfügung stehende Kapazität der 20 Video- und DVD-Geräte zu fast 100 Prozent genutzt und die Videothek wurde von Filmproduzenten, Direktoren internationaler Filmfestivals, Journalisten, Filmtheoretikern, Pädagogen und den Autoren der Filme selbst sowie auch von Studenten und Amateurfilmfans besucht.
»Wird sich Mitteleuropa in der Europäischen Union auflösen?«
Wie auch im letzten Jahr wurde auch 2004 wieder das Mitteleuropäische Seminar von den Organisatoren des Festivals eingeladen, um den Zuschauern der in der Kategorie Zwischen den Meeren aufgeführten Filme die Thematik Mitteleuropa näher zu bringen. In Kurzinterviews sprachen Petruška Šustrová, Journalistin und Übersetzerin, Oxana Sarkisova, von der Mitteleuropäischen Universität in Budapest, Klára Kliner, Redakteurin der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, Jakub Grygar, Sozialanthropologe von der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität, László Vörös von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und Roman Babjak, Repräsentant des Visegrád-Fonds. Oxana Sarkisova leitete auch den Workshop zum Thema Gebrauch und Missbrauch der Geschichte im Film und alle Teilnehmer beteiligten sich an der Podiumsdiskussion zum Thema »Wird sich Mitteleuropa in der Europäischen Union auflösen?« Das gesamte Programm wurde von Zora Hlavicková und Nicolas Maslowski vom Mitteleuropäischen Seminar vorbereitet.
Das 9. Internationale Dokumentarfilmfestival Jihlava wird vom 25. bis 30. 10. 2005 stattfinden.