Während das Gros der Popmusikrezeption Utopien lange Zeit diffamierte – hiesige Musik-Entrepreneure keiften u. a. das Symposium »Pop/Rock-Utopia« und meine Wenigkeit als dessen Kurator einst lapidar mit »Wozu brauchen wir das?!« an – und lediglich Dystopien anbot, sind mittlerweile Appelle nach Utopien und Alternativen zum neoliberalen Raubtierkapitalismus global längst en vogue. Vortrefflich sucht nun auch das jährlich stattfindende Hyperreality Festival für experimentelle und elektronische Musik, für das Sisters, der Verein für queer feministische Kunst und Kultur, verantwortlich zeichnet, nach einer möglichen alternativen Zukunft für die Clubkultur, abseits von kapitalistischen Funktionsweisen. »Nicht erst seit der Pandemie, aber mit der Pandemie hat die Kommerzialisierung von Clubkultur stark angeschoben. Das hat dazu geführt, dass es einige Leute ganz nach oben geschwemmt hat, die auch wahnsinnig hohe Gagen bekommen, und man ganz viele Leute zurückgelassen hat. Mit Streams oder deiner Musik verdienst du eigentlich gar nix, sondern nur durch gut bezahlte Gigs, und die spielst du im besten Fall ohne Band, weil du dann billiger bist. Es gibt immer weniger Leute, die wirklich professionell arbeiten und davon leben können,« so Sisters’ Therese Kaiser. Folgerichtig richtet Hyperreality den Fokus auf Care, Community und Interdisziplinarität, strebt das gesamte Team eine nicht hierarchische Arbeitsweise an.
Prädestiniert dafür, einen kollektiven Prozess der Reflexion über die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der Clubkultur in Gang zu bringen, scheint neben dem exquisiten Line-up auch das diesmal als Off-Location ausgewählte Otto-Wagner-Areal. »Das Produktionsteam von Hyperreality begann im September und Oktober ganz pragmatisch, Locations durchzuscouten. Es gibt nicht so viele Off-Locations, die für ein Festival wie Hyperreality in Frage kommen. Das muss realisierbar sein, es gibt viele große Hallen in Wien, die wir einfach mit unserem Budget nicht bespielen können. Im Otto-Wagner-Areal wird jetzt begonnen, Kultur einziehen zu lassen. Das Queer Museum Vienna ist dort hingezogen und es wird auch in den kommenden Monaten diverse Veranstaltungen geben. Wir waren früh dran, zu merken, dass ein Ort mit Kulturfokus dort quasi aufgebaut wird.« Zweifelsohne ist der kollektive kulturelle Prozess der Umwidmung mehr als angebracht, denn markerschütternde Hilferufe spuken im Otto-Wagner-Areal gewiss auch heute noch durch die Gänge der einstigen Tötungsanstalt des NS-Regimes: »Am Spiegelgrund bezeichnet eine Jugendfürsorgeanstalt der Stadt Wien auf der Baumgartner Höhe (der heutigen Klinik Penzing, vor 2020 Otto-Wagner-Spital), wo in der Zeit des Nationalsozialismus von 1940 bis 1945 kranke, behinderte und »nicht erziehbare« Kinder und Jugendliche gequält und an die 800 Kinder ermordet wurden.« (Wien Geschichte Wiki, 19.05.2024)
Musik als transgressive Kunstform
Als Festival-Location wurde heuer die ehemalige Industrieküche des Areals gewählt. An zwei Abenden präsentiert man avancierte lokale und internationale Künstler*innen. Bereits einen Tag davor finden Workshops statt, die allerdings bereits kurz nach deren Ausschreibung ausgebucht waren. Hyperreality betrachtet Musik als eine transgressive Kunstform, die in der Lage ist, Klang, Performance und Architektur als gleichwertige Parameter einzubetten. Bewusste Grenzüberschreitungen und absichtlicher Verstoß gegen gesellschaftliche und musikalische Regeln und Rituale lassen sich bei den Hauptacts dann auch zuhauf ausmachen: Der*die multidisziplinäre Künstler*in und Musiker*in Chuquimamani-Condori (aka Elysia Crampton Chuquimia) steckt in einem klaustrophobischen Mix Musik der Pakajaqi-Nation des Aymara-Volkes und eklektische Electronica unkonventionell ineinander. Das aktuelle Album »DJ E« gilt bereits jetzt als eines der Highlights des Jahres. Chuquimamani-Condori und Bruder Joshua Chuquimia Crampton präsentieren zudem in einem (bereits ausgebuchten) Workshop ihr multimediales (Film-)Projekt »Amaru’s Tongue: Daughter«.
Aïsha Devi, in der Schweiz geborene experimentelle Künstlerin mit nepalesischen indigenen Wurzeln, verklebt in ihrem tranceartigen Düster-Rave mystische Lyrik und Post-Club-Patterns echt krass. Ihr aktuelles Album »Death Is Home« steht dem zuvor genannten Album um nichts nach. Bereits am Freitag ist die in Wien lebende polnische Musikerin und Queer-Aktivistin Mala Herba mit dem Album »Demonologia« und Einflüssen aus EBM sowie Ritual Ambient zu sehen. Darauf folgt das neue Sludge-Rock-Project Spresso, in dessen Live-Set werden Alpha Maid und Mica Levi von Drummer Zach Toppin begleitet. Die aus Los Angeles stammende und in Berlin angesiedelte Cali Rose definiert ihren Mix als »electro vamp meets bouncy techno barbie«. Und die von Boiler Room sowie vom Dekmantel Festival her bekannte Octa Octa kündigt ein exklusives »vinyl-only Drum’n’Bass«-Set an. Interdisziplinären Treatments, einer kontextuellen Betrachtung von Musik, Kunst, Politik und Wirtschaft, steht somit quasi nichts mehr im Wege. Komplettes Line-up siehe hier.
Link: https://hyperreality.at/