Nein, er sehe sich selbst nicht als Pionier, weil das würde dem Arbeiten an neuen Projekten nur im Wege stehen. Dennoch freut sich Martin Rev über die mannigfaltigen Spuren, die er, ob nun Solo oder zusammen mit Alan Vega als Suicide, hinterlassen hat. Denn, so Rev, »viele Bands verkaufen Millionen Tonträger und üben Null Einfluss aus. Da bin ich lieber in meiner Position«. Wir trafen Martin Rev Anfang Dezember 2009 vor seinem Auftritt in der Roten Sonne in einem Münchner Hotelzimmer.
skug: »Stigmata« hat nichts mehr mit Pop-Musik zu tun und klingt sehr nach ernster, klassischer Musik. Wie kam der Wechsel?
Martin Rev: Veränderungen und Weiterentwicklungen passieren bei jedem Album. Das kann ich weder vorentscheiden noch planen. Manchmal bleiben Ideen von früheren Arbeiten über, die mich weiter beschäftigen. Meine zweite Solo-LP »Clouds Of Glory« ist im Grunde nur eine Weiterführung der zweiten LP von Suicide. Beide LPs sind mit dem selben Equipment entstanden und dennoch gänzlich verschieden. »Stigmata« ist das Ergebnis einer Üffnung hin zu einem neuen Territorium, dessen Grenzen ich überschritten habe.
Vor den letzten Edits und dem endgültigen Mastering spielte mir meine Frau Mari kurz vor ihrem Tod 2007 eine Kassette mit Vivaldis »Stabat Mater« vor. Sie hatte das kurz zuvor vom Radio aufgenommen. Ich hatte das zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört, aber Mari hatte auch einen viel größeren musikalischen Horizont als ich. Aber ich hörte darin sofort etwas, das mich ansprach. Ich war sozusagen bereit dafür. Nun waren alle meine Tracks aber schon fertig, doch mich faszinierten die Titel von Vivaldis Kompositionen und ich begann ein Konzept für die Benennung meiner Tracks und für die Lyrics zu entwickeln.
Ist es ein religiöses Album?
Ich vermute, es kann als solches betrachtet werden. Aber es bezieht sich nicht auf eine spezielle Religion. Es ist eher ein Blick auf Musik als Teil religiöser Kunst. Ich wollte mit dieser Tradition von religiöser Musik einfach etwas ähnliches tun wie es Suicide mit der Rock’n’Roll-Tradition gemacht haben. Rückblickend ist für mich auch die erste Suicide-LP in einem gewissen Sinn ein religiöses Album. Nimm nur »Cheree«. Das ist nicht nur ein kleiner Popsong. Da ist noch etwas inkludiert, das darüber hinausgeht. Dieses Choralhafte etwa. Auch wenn du einen sehr bewussten Background anlegst, entstehen dennoch immer auch all diese spannenden unterschwelligen, unbewussten Sachen.
Die Nullerjahre sind vorbei und Pop scheint auch an sein Ende gekommen zu sein. Wie sieht das jemand, der immer schon Pop und Avantgarde zusammengemixt hat?
Meinst du mit »Pop« auch Rock’n’Roll? Nichts ist vorbei. Wenn du an die großen Kreisläufe der Musik denkst, an Jazz, Klassik etc. dann siehst du doch, das jede Musik ihre ganz eigene Lebensform und damit auch ein eigenes Lebensalter hat. Das können fünfzig, einhundert oder zwanzig Jahre sein. Das hängt ganz von der Lebensform ab. Rock’n’Roll, der ja aus dem Jazz und dem Rhythm & Blues der späten 1940er entstanden ist, existierte als Lebensform nicht wirklich lange. Es war eine sehr spezialisierte, sehr fragile Musik mit einem noch begrenzteren Spielraum für Variationen. Ab einem gewissen Punkt waren alle Möglichkeiten erforscht und ausgereizt. Es gab einfach immer weniger noch unerforschte frontiers.
Aber ich glaube Electronik zeigt immer noch in eine Zukunft, die auf verschiedensten Wegen erforscht werden kann. Nicht als kommerzielle Zukunft von Pop und Rock, aber es gibt da immer noch so viel Unerschlossenes, so viel Raum für Ungewöhnliches. Das wird auch nicht so schnell vorbei sein. Bevor sich das verläuft überlappt sich’s schon mit etwas anderem und bleibt so spannend.
Bei Popmusik geht es immer auch um kreative wie soziale Bedeutungsebenen. Das zeichnet zeitgenössische Kunst aus. Sie entsteht innerhalb bestimmter sozialer und politischer Konstellationen. Und die ändern sich eben. Jede Generation hat Songs mit denen sie sich identifizieren kann. Als wir uns mit Suicide gewissen Aspekten des Sixties-Rock annahmen, schien der auch längst abgeschlossen. Das war Anfang der 1970er schlicht over and out.
Doo Wop sicher auch, obwohl sich diese Musik wie ein roter Faden durch Dein gesamtes Schaffen zieht.
Damit bin ich aufgewachsen. Ich wurde ja in die Doo-Wop-Ära hineingeboren. Das ist der Hauptgrund warum ich überhaupt Musik mache – the essential thing. Meine ersten Schallplatten waren Urban Rhythm & Blues und dazu etwas Country. Das war sozusagen meine musikalische Muttermilch. Deshalb taucht das auch immer wieder auf und ich kann nicht das geringste dagegen tun. Es war auch wichtig, dass Doo Wop eine ethnisch gemischte Musik war und zu einer Zeit als es in den USA noch Rassenschranken gab, diese einfach ignoriert hat. Bei Doo Wop hattest du plötzlich weiße Kids, die zu schwarzen oder gemischten Bands tanzten und kreischten. Dagegen gab es natürlich auch massiven Widerstand. Aber das habe ich erst viel später mitbekommmen. Als Teenager war das primär die Musik zu der wir tanzten und uns verliebten. Es ist ja auch eine sehr romantische Musik, bei der wir Jungs immer an die Mädchen dachten, die wir liebten bzw. an jene, von denen wir hofften, sie wären nach dem nächsten Schulball soweit. Es war einfach fantastisch diese Musik täglich aus deinem eigenen kleinen Transistorradio zu hören. Wöchentlich gab es neue, großartige Songs. Die Songs kamen ja buchstäblich gleich aus der Nachbarschaft, nur ein paar Blocks weiter entfernt. Damit konnte man sich identifizieren. Das war der Soundtrack meiner Kindheit.
Wie kam es dann vom elektronischen Free Jazz Deiner Band Reverend B. zum Rock’n’Roll-Minimalismus von Suicide?
Also meine musikalischen Wurzeln sind, wie zuvor schon erwähnt Rock’n’Roll. Das ist über alle Zweifel erhaben. Als Instrumentalist war Jazz eine Herausforderung. Ich spielte ja vor Suicide in einer Electronic-Free-Jazz-Band und experimentierte zu dieser Zeit viel. Nur neige ich eher dazu, ein Minimalist zu sein. Ich zerlege und reduziere gerne Sachen. Mich interessieren die Knorpel und Knochen von Dingen. Das fordert mich mehr heraus als elaborierte Ausformungen. Rock’n’Roll war immer repetitiv und minimal. Es geht um Energie und Intensitäten. Das wurde mit den Beatles anders. Aber das interessierte mich nie wirklich. Die Rhythm & Blues-Anteile von Rock’n’Roll waren für Sixties-Bands nicht mehr so wichtig. Deshalb habe ich mich dem Jazz zugewandt. Jazz hatte damals etwas, was Rock in den 1960ern nur noch ganz selten hatte. Jazz hatte auch einen dringlicheren, radikaleren und politischeren Anspruch. Wenn Menschen seit Generationen Ausgrenzungen erfahren haben, entwickeln sich dadurch auch andere Formen des künstlerischen Ausdrucks. Das findest du alles bei Coltrane, Davis, Coleman.
Aber der wahre Grund für meinen minimalistischen Ansatz war, aus der Not eine Tugend zu machen. Ich musste einen Weg finden, wie Rock’n’Roll für mich und mein Keyboard funktionieren könnte.
Und da erinnerte ich mich wieder an meine Kindheit und erkannte, dass der Minimalismus alles das enthielt, was für mich die ganze Welt des Rock’n’Roll darstellte. Und ich sah eine Realität in der es Rhythmus-Boxen gab. Nur wurden die hauptsächlich von Alleinunterhaltern verwendet und klangen dementsprechend.
Nachdem Mari als Drummerin ausstieg stand fest, dass wir sie nie durch einem anderen Drummer ersetzen wollten. Da war eine Rhythmus-Box nur das Naheliegendste. Es ging auch um die Erweiterung der Klangmöglichkeiten meiner damaligen elektronischen Welt. Meine erste Rhythmus-Box kaufte ich Anfang der 1970er secondhand von einem alten Ehepaar in New York. Es war eine Seeburg Rhythm Prince. Seeburg war eigentlich für Flipper und Jukeboxen bekannt. Als ich mir das Teil abholte, erzählten mir die beiden, dass die Rhythmus-Box ihrer Tochter gehörte, die dazu Gedichte vorgetragen hat. Ich fand allein die Vorstellung so faszinierend, dass ich gleich nachfragen musste, warum sie diese Idee nun aufgegeben hat. Die Antwort war: »Selbstmord« … Wir hatten damals ja schon »Suicide« als Namen, aber für mich war das auch ein Zeichen. Ich versprach dann auch die Rhythmus-Box in Ehren zu halten. Das haben wir dann hoffentlich auch gemacht. Mit so einer Box konnte ich nicht nur Rhythmen, sondern zusammen mit meinen Roland-Band-Echo ja auch irre Sounds kreieren.
Die Instrumente wurden ja auch durch den radikalen Einsatz von Echo- und Delay-Effekten bis zur Unkenntlichkeit verfremdet.
Es ging immer darum das größtmögliche aus einem minimalen Equipment herauszuholen. Etwa indem du dich mit Feedback beschäftigst. Es ging dabei immer um ?berraschungen aus denen dann Musik gemacht werden konnte. Das war immer die Grundmotivation – einen eigenen Sound zu haben und mit diesem zu arbeiten. Wir hatten lange Zeit keine Drums und auch noch keine Rhythmus-Box. Also produzierten wir unsere Rhythmen mittels pulsierenden Feedback-Frequenzen. Da erkannte ich die ungeahnten Möglichkeiten von Elektronik erst richtig.
Das erinnert dabei ebenso an alte Slap-Back-Echos bei Elvis, wie an die Dub-Experimente von Lee »Scratch« Perry. Gab es da einen direkten Zusammenhang?
Ja, natürlich. Ich konnte Dub sofort in Beziehung zu meinen Sachen bringen. Wobei ich Dub wohl überhört hatte, wenn ich mich zuvor nicht mit Slap-Back-Echos bei Elvis und bei Country & Western auseinander gesetzt hätte. Ich verstand Dub sofort und wusste woher all diese irren Sounds kamen. Wir waren damals ja auch auf dem Cassette-Only-Label R.O.I.R., wo einige Dub-Reggae-Sachen von Lee Perry veröffentlicht wurden. Das lag sozusagen just around the corner.
Wie war das mit Disco? Suicide wurden zwar erst in den 1990ern im Zuge von Electro-Clash von Dance-Acts wieder entdeckt, aber zu eurer Musik konnte doch immer schon getanzt werden.
;Wir haben immer viel getanzt. Auch bei Suicide. Im Max’s Kansas gab es immer Partys. Da legte Wayne County als DJ großartige Rockplatten und frühen Bowie-Stuff auf. Ich sehe Suicide nicht notwendigerweise als entweder Dance-Act oder nicht. Sicher, es dauerte Jahre und brauchte Zeit, bis wir mit Dance Music oder Pop assoziiert wurden, nur haben wir das selber nie so eng gesehen. Wenn Leute jetzt sagen, wir hätten Tanzmusik gemacht, dann sollten sie auch all die kleinen Unterschiede bedenken, die immer schon Teil von unseren Arbeiten, solo wie im Duo, waren. Weil da gibt es schon enorme Differenzen. Es gab nie ein Konzept jetzt eine andere Art von Tanzmusik zu machen. Wir wollten viel eher Rock’n’Roll mit den Mitteln, die uns zur Verfügung standen, also mit rein elektronischem Equipment neu erfinden. Und was immer dabei herauskam bewegte mich auch zum Tanzen.
Deshalb fand ich ja auch Disco so unglaublich. Mich faszinierten besonders all die elektronischen Aspekte. Speziell bei Giorgio Moroder und Donna Summer. Für viel Rock-Fans war Disco nichts weiter als Party- und Tanzmusik. Sie erkannten aber die soziale Bedeutung nicht und dachten, das sei eine rein kommerzielle, wenig wertvolle Musik. Disco war der nächste logische Schritt von Soul und Rhythm & Blues hin zu etwas Neuem, Anderem. Allein wie hier Elektronik verwendet wurde war sehr frisch. Ich mochte das sofort.
Beim Tanzen gibt es ja mindestens zwei Einstellungen: Du kannst mit oder in der Musik tanzen. Die Musik kann die Tanzbewegungen hervorrufen, aber der Tanz kann auch jener Teil sein, der die Musik hervorbringt. Das sind dann auch diese schönen theatralisch-visuellen Aspekte, die in Kombination mit Rhythmen und Sounds erforscht werden können. Jede Gestik hat ihre eigene visuelle Magie, die dann mit der Musik wieder erforscht und weiter getrieben werden kann.
Martin Rev: »Stigmata«
(Blast First/Cargo Records)