Die junge Frau presst ihre Beine fest zusammen. Drückt die Arme starr in die rote Couch, auf der sie sitzt. Schielt mit angsterfülltem Blick in die Ecke des Raumes. Im Hintergrund: das hochglanzpolierte Heim mit riesiger Fensterfront, unpersönlicher Deko und einem großen Einbauschrank, in dem sich der Schatten einer weiteren Person spiegelt, den die junge Frau mit ihren Augen fixiert. Es ist eine Szene aus dem Psychothriller »Swallow« (2019), die das Cover des im August 2022 im Sonderzahl Verlag erschienenen Buches »Gewohnte Gewalt – Häusliche Brutalität und heimliche Bedrohung im Spannungskino« ziert.
Im US-Arthouse-Film »Swallow« leidet Hunter, Ehefrau und baldige Mutter, unter dem »Pica-Syndrom«. Sie hat das Bedürfnis, kleine Haushaltsgegenständezu schlucken, von Murmeln über Reißzwecken bis hin zu Batterien. Hunter, die gerade von ihrer Schwangerschaft erfahren hat, versucht, durch das Einverleiben der Fremdkörper Kontrolle über ihren eigenen Körper zu erlangen – Kontrolle, die ihr in ihrer aktuellen Lebenssituation durch patriarchale Rollenbilder und Erwartungshaltungen erschwert, wenn nicht verwehrt wird. Die Gewalt, die Hunter erfährt, ist alltäglich, normalisiert, fast unsichtbar. Gewohnt eben. Und sie findet dort statt, wo sie eigentlich vor jeglicher Bedrohung sicher sein sollte: in ihrem eigenen Zuhause. Umso schwieriger ist es für Hunter, ihr zu entrinnen.
Gewalt im Drinnen und Draußen
Der Sammelband »Gewohnte Gewalt«, herausgegeben von Essayist DrehliRobnik und Filmwissenschaftler Joachim Schätz, thematisiert den DomesticThriller: die filmische Verarbeitung dieser Gefahr im »Drinnen«. Auf 260 Seiten, in sieben Kapiteln und 50 Beiträgen widmen sich Filmkritiker*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen aus allen möglichen Disziplinen – von Medienwissenschaften über Geschichte, Soziologie, Genderforschung bis Architektur – dem Genre Domestic Thriller. Seine Potenziale und Problematiken arbeiten die Autor*innen anhand filmischer Beispiele auf, beginnend mit Klassikern wie Alfred Hitchcocks »Rebecca« oder den »Gaslight«-Filmen aus den 1940er–Jahren, US-Psychothrillern aus den 1980er–und 1990er–Jahren wie »The Stepfather« oder »Single White Female« und Filmen einer aktuellen Welle von Domestic Thrillern, darunter »Gone Girl« und »The Girl on the Train«, die Gewalt in romantischen (heterosexuellen) Beziehungen verhandeln, sowie südkoreanische Hausarbeits-Thriller wie »The Handmaiden« oder der Oscar-Preisträger »Parasite«.
Obwohl es eine Bedrohung im »Drinnen« ist, die diese Domestic Thriller dramatisieren, ist sie immer auch Folge eines gesellschaftlichen »Draußen«. Ob Geschlechterhierarchien, Rassifizierung oder Klassenunterschiede – wir sind auch dort nicht vor patriarchaler Gewalt geschützt, wo wir uns am vermeintlich sichersten fühlen. Im Gegenteil: Kriminalstatistiken belegen, dass Heim und(Ex-)Partner für FLINTA* mehr Gefahr bedeuten als das Fremde. Die Pandemie hält uns dies schmerzlich vor Augen: Während der Lockdowns häuften sich in Österreich Femizide, also Morde und Gewalt an FLINTA* in ihrem sozialen Umfeld. Eine nationale Debatte entfachte sich, politische Reformen blieben aus.
(Weibliche) Entmächtigung
Klassischerweise behandeln Domestic Thriller diese vergeschlechtlichte, »meistens männliche Gewalt«, schreiben die Herausgeber in der Einleitung des Buches. Der Thrill des Domestic Thriller liegt im Bangen und Hoffen um das Wohlergehen der entmächtigten oder geschädigten Filmfigur, meistens einerFrau. So auch der Film »Martha« (1974) von Rainer Werner Fassbinder, wie Soziologin Laura Wiesböck im zweiten Kapitel des Buches zu »Männergewalt« analysiert. Ein Mann namens Helmut misshandelt darin seine Ehefrau Marthakörperlich wie psychisch auf Äußerste. Die Protagonistin erleidet durch die ihr angetane Gewalt eine Querschnittslähmung und sitzt von da an im Rollstuhl.
Während Wiesböck selbst den Film als »einen wichtigen Beitrag zur Verdeutlichung, dass die Gefahr, als Frau von Männern gezielt gewaltvoll misshandelt zu werden […] mit Anspruchsdenken und Herrschaftssucht in ihrem eigenen Wohnzimmer sitzt« bezeichnet, macht sie auch auf einen widerlichen Kommentar des Regisseurs aufmerksam, der in einem Interview anmerkte: »When Martha can no longer take care of herself, she has finallygotten what she wanted all along.« Auch Kritiken bezeichneten die Beziehung im Film als »sadomasochistisch«, als hätte das Opfer Spaß an der eigenen Demütigung und Folter. Trotz des machtkritischen Potenzials des Genres, das zeigt Wiesböck hier auf, sind Victim–Blaming-Tendenzen dem DomesticThriller nicht fremd.
Mythos der »lügenden Frau«
Das offenbart auch der Film »Gone Girl« (2014), wie Theater-, Film- undMedienwissenschaftlerin Louise Haitz im Buch stimmig herausarbeitet. Darintäuscht Ehefrau Amy – so erfahren es die Zuschauer*innen durch einen Plot-Twist in der Mitte des Films – ihre eigene Ermordung vor und macht der Öffentlichkeit glaubhaft, ihr Ehemann Nick sei der Täter. Der Film spielt, wie Haitz spannend aufzeigt, mit der (Un-)Glaubwürdigkeit eines vermeintlichen Opfers – eine Frau – und eines vermeintlichen Täters – ein Mann – und macht sich dabei den misogynen Mythos der »lügenden Frau« zu eigen. Wie Haitzklug anmerkt: »Statt den Terror von Gewaltdynamiken in Paarbeziehungen zu vermitteln (was auch ›thrilling‹ wäre), figuriert der Film das böse, lügenhafte Weib als Wegerklärung.«
Den Mythos der »lügenden Frau«, wenn auch nicht im Kontext romantischer Beziehung, behandelt auch der Film »Run« (2020), den die Journalistin Vina Yun im siebten Kapitel »Spielräume und Auswege« untersucht. Darin macht die (über)fürsorgliche Mutter Diane ihre 17-jährige, im Rollstuhl sitzende Tochter Chloe absichtlich krank. Münchhausen-Stellvertretersyndrom heißt diese sehr, sehr seltene Krankheit, die, wie Yun schreibt, im westlichen Fernsehen »umso lustvoller ausgeschlachtet« wird. Um die zueinander in Kontrast stehenden gesellschaftlichen Ansprüche an Mütter, die einfach nur »der reinste Grusel«sind, geht es im Film kaum. Stattdessen folgen die Zuschauer*innen dem »Opfer« Chloe, die – und da sind wir beim machtkritischen Potenzial des Domestic Thriller angekommen – überhaupt nicht als wehrlos oder von ihrer Mutter abhängig konstruiert ist: »Run« ist weder ein »Disability Death Porn«, der die Behinderung zum Grauen erklärt, noch ein »Inspiration Porn«, der Chloe zum Idol erhebt. Yun zeigt anhand des Showdowns im Film auf: Mutter und Tochter sind sich ziemlich ebenbürtig.
Subtile Gewalt und Sozialkritik
Über »Spielräume und Auswege« aus gewohnter Gewalt schreiben auch die Filmkritiker*innen Alejandro Bachmann und Michelle Koch, wenn auch im zweiten Kapitel zu »Männergewalt« in Beziehungen. In ihrem Artikel über österreichische Dokumentarfilme zu häuslicher Gewalt – was in Hinsicht auf den Anspruch des Buches, Spielfilme in den Fokus zu nehmen, fast ein wenig abtrünnig daherkommt – beschreiben sie, wie die Kamera als »Waffe« gegen die Ohnmacht des Opfers wirken kann: als Zeugin, als Störung, als Gegenschlag. Häusliche Gewalt passiert in den Dokumentarfilmen der genannten Filmemacherinnen nicht nur körperlich, sondern auch subtil. Wie in Katrin Schlössers autobiografischem Film »Szenen meiner Ehe« (2018). Über Jahre hinweg hält Schlösser den Beziehungsalltag mit ihrem Ehemann fest, derpatriarchale Macht durch sprachliches Dominanzverhalten, besserwisserischesMansplaining und einen Hang zu psychologischen Spielchen ausübt.
Doch Domestic Thriller verhandeln nicht nur Geschlechterdynamiken, wie die Autor*innen in »Gewohnte Gewalt« zeigen. Das Spannungskino problematisiert – und reproduziert – Rassismus, Klassismus oder Queerfeindlichkeit. So z. B. im Kapitel »Haus/Arbeit«, wo etwa Sebastian Schweer den südkoreanischen Oscar-Preisträger »Parasite« (2019) sowie »All the Pretty Little Horses« (2020) aus Griechenland unter die Lupe nimmt. Beide Filme eint: In ihnen wohnen Hausangestellte heimlich in den Villen ihrer Arbeitgeber*innen. Schweer nennt die Villen »Para-$ites«, also Orte des Geldes. Außerdem verweigern dieProtagonist*innen der beiden Filme die Solidarität mit Gleichgesinnten. In »Parasite« führt das dazu, dass sich die Bediensteten »untereinander buchstäblich den Schädel einschlagen. In »All the Pretty Little Horses« hegen die Protagonist*innen Mordgelüste gegen ihre Chef*innen. An ihrem gesellschaftlichen Status ändert das alles am Ende nichts.
Machtmonopole im privaten Raum
Um Kapital und Klasse drehen sich auch Beiträge im Kapitel »Gegeneinander Zusammenwohnen«, wo Architektin, Wohnbauplanerin und Aktivistin GabuHeindl anhand der Filme »Le Locataire – Der Mieter« (1976) und »Pacific Heights« (1990) unterschiedliche Zugänge zur Wohnungsvermietung als Ohnmachts- und Gewaltverhältnis analysiert. Während ersterer das Machtmonopol eines übellaunigen Vermieters und dessen negative Auswirkungen auf den mietenden Protagonisten verhandelt, stilisiert zweiterer in einer neoliberalen Logik den Mieter zum Übeltäter, den die ach so armen Vermieter*innen aufgrund seiner Mietrechte nicht rausschmeißen dürfen. »Am Ende wird alles gut, der ›Mietnomade‹ ist nach dem Showdown tot und das Unrecht namens Mieter*innenrechte gesühnt«, schreibt Heindl. Auch hier schlüsselt die Autorin auf, was die Herausgeber bereits im Klappentext des Buches andeuten: manche Domestic Thriller benennen gesellschaftliche Probleme. Andere sind Teil des Problems.
Um nur noch einige wenige der vielen aufschlussreichen Beiträge des Buches zu erwähnen: Stefan Schweigler richtet in seiner Auseinandersetzung mit dem Thriller »Lizzie« (2018), der einen wahren Mordfall aus dem Jahr 1892 zur Grundlage hat, den Blick auf die filmische Konstruktion des patriarchalen Zuhauses als heteronormativen Käfig, aus dem es kein Entrinnen gibt (außer die Protagonist*in tötet ihre Eltern). Journalist und Radiomacher Dominik Dusek, möglicherweise inspiriert durch pandemische Arbeitsbedingungen, kommt mit einer Neuinterpretation von Kubricks »The Shining« um die Ecke, in der der Protagonist Jack mit der Vermischung von Privat- und Berufsleben im Home–Office nicht klarkommt. Und Zeithistorikerin Aylin Basaran macht anhand derPsychothriller »Meurtre à Pacot« (2014) aus Haiti und »Kare Kare Zvako«(2005) aus Simbabwe bewusst, dass an postkolonialen Orten, wo das Heim schon lange keinen Schutz mehr verspricht, Bedrohung viel tiefer in private Räume eindringt.
Filmtheorie am Puls der Zeit
»Gewohnte Gewalt – Häusliche Brutalität und heimliche Bedrohung im Spannungskino« ist ein Buch, das – und hier muss man wohl »leider« sagen –den Nerv der Zeit trifft. Mit dem Anstieg häuslicher Gewalt in der Pandemie ist die Relevanz der Thematik, obwohl natürlich schon immer da, offensichtlicher als je zuvor. Die Stärke des Buches liegt in seiner intersektionalen Perspektive, der Neubetrachtung altbekannter Filme und seiner Sozialkritik, die auch vor den Dominanzperspektiven der behandelten Domestic Thriller selbst und ihren Macher*innen nicht zurückschreckt. Wie die Herausgeber Drehli Robnik und Joachim Schätz mit Blick auf den Film »Swallow« und seine Krimskrams-verschluckende Protagonistin schreiben: Das Buch arbeitet »in kleinen Häppchen an unserem kollektiven und kinematografischen Hausrat, von dem vieles unverdaulich bleibt«.
Ein bisschen schade: Das Buch bleibt, wie auch die akademischen Hintergründe der Autor*innen vermuten lassen, nicht frei von wissenschaftlicher Sprache. Begriffe und Theorien aus den Film- und Sozialwissenschaften erklären diejeweiligen Autor*innen mal mehr, mal weniger ausführlich. Zäh ist es, dank abwechselnder Schreibstile, dennoch nicht. Ein weiterer Pluspunkt: Wen Spoiler nicht abschrecken, der*die kriegt einige gute Filmtipps mit auf den Weg.
Im skug Talk beim Salon skug am 10. November 2022 diskutieren die beiden Herausgeber Drehli Robnik und Joachim Schätz mit Jan-Hendrik Müller, Film- und Kulturwissenschaftler; Lea Susemichel, Autorin zu feministischer Theorie & Politik, und Renée Winter, Historiker*in und Medienwissenschafter*in.