Schon im Winter 1941/42 schrieb der Frankfurter Wissenschaftler Max Horkheimer in »Vernunft und Selbsterhaltung« von der angeblichen »Erneuerung der Gesellschaft«, die die Faschisten anpeilten. Diese gesellschaftliche Veränderung sei aber eng verkoppelt mit dem »Bewusstsein universalen Unheils«. Die Menschen würden spüren, dass sie »eine Höllenmaschine bedienen«, denn die Faschisten würden »das Grenzenlose der Gewalt« sichtbar machen. In Horkheimers eigenen Worten: »Was der Faschismus denen antut, die er herausgreift, um das Grenzenlose seiner Gewalt allen vor Augen zu stellen, scheint jeglicher Vernunft zu spotten. Die Folterungen übersteigen die Kraft von Vorstellung und Denken: der Gedanke, der es versuchte, der Untat zu folgen, erstarrt vor Entsetzen und wird ohnmächtig. Selbst das Bewusstsein der Unterdrückung schwindet. Je inkommensurabler die konzentrierte Kapitalmacht und die Ohnmacht des Einzelnen, desto schwieriger wird es für diesen, den menschlichen Ursprung seines Elends zu durchdringen.«
Die faschistoide Erneuerung, das angestrebte neue Leben, wird also mit dem Tod verknüpft, an den Tod gehängt. Eine Art von übermenschlichem Todeskult entsteht: »Die Formen der Repression sind nie von den Betrogenen gläubiger als übermenschliches Verhängnis hingenommen worden denn gegenwärtig, da jeder von der Erneuerung der Gesellschaft spricht. Der Gedanke an Veränderung ist aufgezehrt vom Bewusstsein universalen Unheils. Alle fühlen, dass sie in Krieg und Frieden mit ihrer Arbeit eine Höllenmaschine bedienen. Dieser listen sie die Zeit zum Leben ab, die ihnen durch ihre Bedienung wiederum verloren geht.«
Schlimmer als der Tod
Der Faschismus lehre die Menschen, Schlimmeres zu fürchten als den Tod, eine sehr wichtige Analyse, die Horkheimer bereits im Exil in New York schrieb. Die Faschisten lehrten die Menschen die Verachtung für den Tod bei gleichzeitiger ständiger Bedrohung durch denselben. »So machen sie weiter, jeder Situation gewachsen und keine mehr verstehend, den Tod verachtend und doch stets auf der Flucht vor dem Untergang. Der Tod war die Grenze schlechthin des durch Selbsterhaltung konstituierten Individuums. Der Satz Hamlets, ›Der Rest ist Schweigen‹, der auf den Tod ohne Hoffnung das Nichts folgen lässt, weist auf den Ursprung des bürgerlichen Ichs. (…) Dem Individuum war das Leben unendlich wichtig, weil der Tod die absolute Katastrophe wurde. Der Faschismus rührt an diesen Grundsatz der bürgerlichen Anthropologie. Er stößt, was ohnehin fällt, das Individuum: indem er es Schlimmeres fürchten lehrt als den Tod.«
Max Horkheimer schreibt spannenderweise auch schon über die Ambivalenz im einzelnen Menschen, den Spalt im Menschen selbst, der auftreten muss und »durch die Realität der Konzentrationslager definiert ist«. Das schrieb er bereits im Winter 1941! Jeder und jede einzelne sei virtuell sozusagen »nichts anderes als die Gebrochenen im Lager«. In seinen eigenen Worten: »Es muss das Ich aufgeben und sich selbst leibhaft überleben. (…) Das wird in Deutschland eingeübt. Die Unidentität fast jedes Einzelnen mit sich selber, in der fast jeder gleichzeitig und unter Verzicht auf Konsistenz Nazi und Antinazi, überzeugt und skeptisch, tapfer und feige, klug und dumm ist – das ist die einzige Verhaltensweise, die der Realität wahrhaft Rechnung trägt, die nicht durch verlogene Pläne, sondern durch das Konzentrationslager definiert ist. Den Menschen vorzudemonstrieren, dass sie selbst nichts anderes sind als die Gebrochenen der Lager, ist die Methode im Wahnsinn. Sie produzieren eine Fernwirkung, die weit über die genaue Kenntnis der Vorgänge hinausreicht und mehr als alles andere dazu beiträgt, die Volksgemeinschaft zu kitten.«
Lehrmeister Schmerz
Die Reduktion des Ich wäre der wichtigste Gedanke der Faschisten, den sie in echtes Leben umsetzten – der innerliche Zerfall der Menschen, die nichts mehr als »Hüllen des Schmerzes« wären. Max Horkheimer aus New York in Richtung Deutschland: »Pleite nennt der Nazi den Hereinfall, meschugge den, der nicht rechtzeitig für sich sorgt, und das antisemitische Hetzlied wirft den Amerikanern vor, dass sie nicht ahnen, ›was sich tut‹. Die Urheber des Pogroms begründen es damit, es wäre bei den Juden wieder einmal etwas nicht ganz koscher. Sich durchzuwinden, ist das geheime Ideal auch der SA-Männer, ihre Sehnsucht ist das jüdische Köpfchen, das sie einschlagen, weil es keines gewesen sei. Hinter der Wendigkeit, die sie parodieren, vermuten sie im Grunde selbst heute noch die Wahrheit, die sie sich verbieten und zerstören.«
Die Nazis würden sich selbst also Wahrheit und Wendigkeit verbieten und zerstören. Sie reduzierten sich ganz freiwillig auf den eigenen »Leib«, auf den Schmerz. »Der Schmerz hat seit je am sichersten Raison gelehrt. Er bringt die Widerstrebenden und Schweifenden, Phantasten und Utopisten zu sich selbst, ja er reduziert sie auf den Leib, auf einen Teil des Leibs. Im Schmerz wird alles eingeebnet, jeder wird jedem gleich, Mensch und Mensch, Mensch und Tier. Der Schmerz saugt das ganze Leben des Wesens auf, das er ergriffen hat: sie sind nichts mehr als Hüllen von Schmerz. Es vollzieht sich die Reduktion des Ichs stets noch einmal, von der die ganze Menschheit befallen ist.« Der Schmerz würde als tödlicher »Lehrmeister« eingesetzt: »Die Inquisition praktizierte schon die Wut darüber, dass die Einführung des Christentums misslungen ist, die Wut, die dann im Faschismus offen das Christentum widerruft. Er hat den Schmerz wieder ganz eingesetzt.«
Max Horkheimer: »Vernunft und Selbsterhaltung«, S. Fischer, Frankfurt am Main 1970. »Vernunft und Selbsterhaltung« entstand im Winter 1941/42 für Walter Benjamin und ist in dessen Festschrift, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1942 herausgaben, als Typoskript enthalten.