Oft verwenden Menschen den Ausdruck »Das Böse«, wenn sie nicht genauer hinschauen, sich lieber ganz allgemein und anonym gruseln und fürchten wollen, als zu registrieren, was wirklich läuft. Der Filmemacher Stefan Ruzowitzky schaute nun aber genau auf die NS-Täter im Osten, von denen viele – zum Teil deren Verwandte und Nachkommen – über Generationen hin den Blick abwandten. Ruzowitzkys neuer Film »Das radikal Böse« handelt von den zwei Millionen jüdischen Menschen, die schon vor der industriellen Vernichtung sterben mussten. Von Angesicht zu Angesicht erschossen wurden. Als Ursachen für diese schrecklichen Taten sieht Ruzowitzky Autoritätsglauben und eine gewisse Abstumpfung nach den ersten Morden, bei denen viele der jungen Männer sich noch erbrachen, es nicht aushielten, Herren über Leben und Tod zu sein – egal wie »minderwertig« dieser Mensch sei, den sie aus dem Leben befördern sollten.
»Banale« Selbst-Destruktion
Autoritätsglauben und Gewöhnung sind ein wichtiger Teil eines Erklärungsmodells, aber nicht ausreichend. Ich denke, und das soll absolut keine Entschuldigung sein, dass diese jungen Männer, diese Soldaten sich ab einem gewissen Punkt selbst aufgaben. Nach den ersten Morden fügten sie sich in ihr »Schicksal«. Sie hatten generationsbedingt als Kinder (ihre Eltern durchlebten den Ersten Weltkrieg) zu wenig Widerstandskraft und Liebe zu sich selbst, kein facettenreiches und fröhliches Selbst entwickelt, um sich und andere zu schützen und sich zu wehren gegen diese fürchterlichen Morde. Ihr »Selbst« verkroch sich sozusagen, spaltete sich ab und übrig blieb eine Hülle, die nicht mehr imstande war, das notwendige Stop zu sagen. Insofern waren diese jungen Soldaten noch keine »ausgereiften«, selbstständigen Erwachsenen, als sie zu Tätern wurden. Krieg kann das mit Menschen machen, dass sie sich selbst aufgeben, ihr eigenes Selbst entschlüpft ihnen sozusagen. Adolf Eichmann, dem die Philosophin Hannah Arendt diesen Mechanismus nachwies, sagte später, als er seines Führers bereits verlustig gegangen war: »Wie gut, dass es Gott gibt, denn ohne Führung müsste man ganz alleine sein.«
Nichts zu sagen
So »banal« kann also »das Böse« sein: leere Menschen, die ihre eigene Selbstauflösung, ihren Selbstverlust gar nicht mitkriegen, weil sie nie oder nur unvollständig »ein Selbst«, einen Charakter entwickeln konnten. Und sich mit anderen Menschen sozusagen »auffüllen« und glauben, ohne diese »Führung« nicht überleben zu können. Und hier rede ich noch gar nicht von solchen, die die Selbstauflösung im Angesicht einer Autorität noch mit Lust besetzen, imaginieren, dass sie auf diese Weise flüchten könnten. Ruzowitzky meinte in einem Interview, dass eine Befehlsverweigerung nur geringe Strafen nach sich gezogen hätte. Diese jungen Soldaten vernichteten jüdische Menschen und sich selbst innerlich gleich mit. Deswegen redeten viele auch nach dem Krieg nichts mehr, sie hatten nichts zu sagen, fühlten nur eine Leere. Wenn sich jemand auf »das Böse« beruft, sollte man immer genauer hinschauen, was läuft. Auch nach 1945. Denn mit genauerem Hinsehen hätte jemand zum Beispiel registrieren können, dass sich die ehemaligen Nazi-Richter in der Jugendfürsorge-Gerichtsbarkeit sammeln, dort ihre Bevölkerungspolitik fortführen und ledigen Müttern, Gastarbeitern und Jenischen die Kinder wegnehmen lassen. Und was mit diesen Kindern in Kinderheimen passiert, in denen ehemalige NS-ErzieherInnen ihre Modelle der Herabwürdigung und Folter ausleben konnten.
Künstlerischer Ausdruck
Stefan Ruzowitzky hat genau hingeschaut und versucht, neue Bilder zu mörderischen Praktiken zu finden – er hat es wenigstens probiert und wird auch kritisiert dafür, dass er Spielfilmelemente mit Dokumentarfilm mischte bzw. Pulsingers elektronische Musik verwendete. Es sind noch viele Versuche nötig, um frei nach dem Kunstphilosophen Giorgio Agamben die Leerstelle des Holocaust zu umkreisen – den Abgrund, den man nie künstlerisch auffüllen wird können, aber man darf nie aufgeben, ihn zu umkreisen. Es sollte nicht solche Lebensbedingungen geben, unter denen Menschen das Gefühl haben, den TäterInnen nicht auskommen zu können, ja sogar Mord internalisieren und antizipierend handeln. Die armen jüdischen Opfer konnten das Ausmaß dieser Destruktion nicht fassen. Zwei Millionen Menschen! Die ehemaligen Heimkinder treten jetzt öffentlich auf und klagen das genaue Hinsehen ein. Auf den Schaden, der angerichtet wurde. Spät aber doch, waren die österreichische Gesellschaft und der Staat endlich bereit dazu. Die geschädigten alten Kinder kämpfen um einen Ausdruck, viele davon – wie gerade in einer Ausstellung im Wiener Künstlerhaus zu sehen – in künstlerischer Form.
Man kann sich nicht auf ein ominöses »Böse« ausreden, die Strukturen sind wichtig, die bestimmte Verhaltensweisen einbremsen oder fördern. Und jeder einzelne kann wenigstens hinsehen. (Und es ist auch ein großer Fortschritt, dass jugendliche Flüchtlinge, bedingt durch ein neues Wiener Landesgesetz, erstmals als Kinder behandelt werden und dann erst »als Fremde«. Damit sie geschützt werden und nicht im Gefängnis »dem Bösen« in Gestalt von erwachsenen Straftätern ins Auge schauen müssen.)
Stefan Ruzowitzky: »Das radikal Böse« (Filmladen)