Im Gegenschnitt von Želimir Žilniks neuem Meisterwerk »Evropa Preko Plota« (»Europe Next Door«): Eine in ruraler Schneelandschaft zurückkehrende junge Frau. Im Zentrum der Handlung: Am Bauernhof ihrer Familie lebende Personen. Ort: Ein Nachbardorf von Subotica (serbische Stadt an der ungarischen Grenze). Die Unterhaltung geht über Marktpreise. Die staatlich gestützte Landwirtschaft in Ungarn ermöglicht, dass grenznahe Supermärkte abgelaufene Ware zu extrem niedrigen Preisen verkaufen – unter dem Marktwert, den etwa Schweinefleisch aus serbischer Produktion hat. Roko Babičković, der seine Schweine mitten in der Natur der Vojvodina hält und diese länger am Leben lässt als dies je ein EU-Landwirt tun würde, ist diese Differenz bewusst. Und zählt Tiere auf, mit denen er umgehen kann bzw. zeigt seinen Stolz: Säue, Kühe, Ziegen, Pferde, Esel, Enten, Gänse, Hühner.
Last Exit Tiflis
Bereist man Staaten aus der ehemaligen kommunistischen Einflusssphäre, die die wirtschaftliche Konversion Richtung Prosperität nicht geschafft haben, bestätigt sich dieses Bild immer wieder. Pensionen oder Arbeitslosengelder reichen bei weitem nicht, ein normales Leben führen zu können. Und wer sich nicht selbst versorgen kann, dem bleibt oft nur der Handel bzw. seine letzten Wertgegenstände zu verkaufen. Selbst aus dem Drehbuchprofessor des Regisseurs Levan Zakareishvili wurde ein Basari. Dieser ist Protagonist in einem der kurzen s/w-Filme, die Zakareishvili in eine Spielfilmhandlung (in Farbe) – worin Dato, ein junger Filmemacher, der mangels Finanzierung des geplanten Streifens mehr in Bars herumhängt und doch sein Drehbuch weiterbringt – montiert. Mit diesem Kunstgriff gelingt es, die knallharte georgische Realität in eine ausdrucksstarke Cinematographie zu bannen. Tristesse wird in »Tbilisi-Tbilisi« derart spürbar, das Leben ist weniger wert als sonstwo, doch selbst der korrupte Polizist verstrahlt so etwas wie tolpatschige, menschliche Wärme. Erbarmungslos ist das Schicksal, grenzenlos das Leid. Die stumme junge Bettlerin Lena (weil ihre Eltern im Abchasienkrieg vor ihren Augen ermordet wurden) wird ausgeraubt, und als sie zu ihrem kranken Bruder in den Flüchtlingswaggon zurück will, fährt dieser gerade ab …
Noch mal zur Eisenbahn als Schlussmetapher, die doch auch einen Hoffnungsschimmer lässt. Auch am Ende von »Molly’s Way«: ihr Zug verlässt Walbrzych Richtung Wroclaw, Richtung Heimat. Emily Atef gelingt anhand eines erst in der schlesischen Minenstadt Walbrzych fertig gestellten Scripts ein kleines Opus Magnum. Molly, die ein Pole auf dessen Urlaub in Irland schwängerte, kann ihren Marcin, von dem sie nur den Vornamen und seinen Beruf wusste, endlich finden. Doch ist dieser nur an Sex interessiert und Molly kehrt zurück, ohne Marcin zu sagen, dass sie ein Baby von ihm erwartet. Dies ist eigentlich nur die tragende Rahmenhandlung. Doch geht es hier genauso um den sehr genauen Blick auf eine polnische Kleinstadt, deren Schwerindustrie in den letzten Zügen liegt.
Witamy w Walbrzychuy (Willkommen in Walbrzych)
Um ihren Aufenthalt zu finanzieren, wird Molly in einem Hotel-Bordell Putzfrau. Ihr Besuch in einer polnischen Schlagertanzbar oder die beklemmende Enge von Marcins Wohnung, die dieser mit drei weiteren Kumpels teilt, zeigen die soziale Komponente, und in grandiosen Bildern tun sich die Gründe für den Verfall auf. Etwa bei Mollys Streifzügen durch die devastierte Minenlandschaft, wo illegale Kohleförderer schuften, ihrem Aufsuchen einer veralteten Stahlfabrik, wo gefährlich Flammen schießen … Ein Abbild einer sterbenden Industrielandschaft, die aber in ihrer Morbididät – wie so vieles in Osteuropa – doch so etwas wie unwiderstehlichen Charme hat.
Alle diese Filme geben den am Rand der Gesellschaft existierenden Menschen Würde. Auch die Mädchen, Frauen und Männer, die in »Pavee Lackeen« als delogierte Travellers in Wohnwägen von den Behörden mit falschen Versprechungen noch weiter an die Peripherie, ins noch unerträglichere (kein Wasseranschluss, keine Elektrizität) Hafenareal von Dublin gedrängt werden. Perry Ogden hat das geschafft, indem er die jungen weiblichen Teenager (Alter zehn, elf Jahre) u.a. auf ihren City-Erkundungen hautnah begleitet und so auch deren Träume offenbart.
Auch im Arbeitswelten-Special von Kinoreal steht die Schwerindustrie im Mittelpunkt. Die bereits hochtechnisierte Stahl- und Papierindustrie ist Thema von »Working Class« (R: Veikko Aaltonen). Allerdings verwundert dann doch das sehr banale Alltagsleben (die Arbeiter beim Fischen, Essen, in der Sauna, zu Hause metallischen Heavy Rock hörend). Den Finnen fehlt hier die ihnen eigene trockene Ironie, aber andererseits ist das ja eine Doku, und kein Streifen von Aki Kaurismäki. Sarkastischen Galgenhumor haben dagegen die wie Don Quichote gegen die allmächtige Aliev-Autokratie kämpfenden NGOs und Landwirte aus Aserbeidschan. Die Behörden enteigneten beim Bau der Pipeline Baku-Ceyhan die Farmer ohne Ablöse. »Zdroj« (»Source«) von Martin Marecek schildert die Lage der Kleinbauern, deren Lebensgrundlage durch den Raubbau an der Natur vernichtet wird, schonungslos. Konträr dazu geben korrupte Beamte Antwort, welch großartiger Segen der Ölreichtum doch sei.
»Evropa Preko Plota« (»Europe Next Door«)
Schlussbild: Žilnik bringt die Malaise, in die ein fataler Konnex aus planwirtschaftlichem Niedergang und Neoliberalismus geführt hat, auf den Punkt. Vermehrt führt diese zu einem unbedingten Emigrationswunsch wie dieser mir selbst von sehr vielen Jugendlichen aus der Vojvodina, die ich dort kennenlernte, geäußert wurde. € 3.000,- kostete die Scheinehe, die Roko Babičkovićs nun hinter die EU-Außengrenze rückgekehrte Tochter mit einem Ungarn aus Szeged einging. Anica hat weder die ungarische Staatsbürgerschaft erlangen können, noch einen Job finden können, trotz hervorragender Sprachkenntnisse. Sie wird nicht mit Vorwürfen konfrontiert, sondern gelassen wieder im Kern der Familie aufgenommen. Doch all der Aufwand, auch die inszenierte Hochzeitsfeier (Ungarn und Serben erläutern die Widersprüche der Ökonomie, die Existenzgrundlagen vernichten kann) am Bauernhof, lohnte. Man hat via Žilniks Coup, diesem implantierten Spielfilmelement, Einblick bekommen, wie sehr die Schengengrenze auch eine Armutsgrenze ist. Wie ohnmächtig ein Volk ist, dem, weil es keine Arbeit gibt, nur noch die der Handel oder die Hoffnung aufs Exil bleibt. Vorerst.
Um der Vielfalt der von Crossing Europe angebotenen Filmdichte gerecht zu werden, seien noch Musikdokus über Moskauer Streetpunks (»Kinder der Schlafviertel« von Korinna Krauss/Janna Ji Wonders), die »Philosophie« einer polnischen Punkband im Clinch mit den Medien (»Generation C.K.O.D.«), oder Bernd Schochs Bob Log III porträtierender »Slide Guitar Ride« erwähnt. Und den mit € 10.000,- dotierten Wettbewerb »Europäisches Kino« hat vielleicht zu Recht Isabelle Stever gewonnen. »Gisela« ist die gelungene Verfilmung von Robby Dannenbergs Pop-Romandebüt, in der eine verheiratete Supermarktkassierin mit Kind sich auf Affären (der Reihe nach) mit zwei Slackern einlässt. Großartiges Drehbuch, kongenial umgesetzt, am Schluss ist alles wieder so, wie zu Beginn und doch … die Freiheit etwas zu tun, ohne an Materialismus interessiert zu sein … diese bleibt haften.