Oder: Aus der Entfernung schaut vieles hübscher aus. Inspiriert vom Preisträger des diesjährigen Linzer Filmfestivals und dem via Local Artists gewürdigtem jüdischen Emigranten Fritz Kalmar führen die Kinoreisen von ruralen über verkehrsreiche in industrielle, urbane Regionen und enden schließlich in Uruguay.
Von Wilhelm Sasnal wurde vor einigen Jahren ein Gemälde in einer skug-Printausgabe abgebildet. Der Artikel über die junge Kunstszene Polens stammte von der Kuratorin Goschka Gawlik. Ein Déjà-vu in Linz also, mit unerwartetem, denkwürdigem Debütfilm. »Z Daleka Widok Jest Pi?kny«/»It Looks Pretty From A Distance«, entstanden in Co-Regie mit seiner Frau Anka, wurde gar mit dem CROSSING EUROPE Award European Competition (?? 10.000,-) ausgezeichnet. Keineswegs unverdient – die gestalterische Sorgfalt ist bemerkenswert und lässt vermuten, dass hier jemand Regie führt, der einen Hintergrund in der bildenden Kunst hat.
Oberflächlich gesehen spielt »It Looks Pretty From A Distance« in einer landschaftlich wunderschönen Idylle. Wilhelm & Anka Sasnal erzählen davon schon im Titel und mit beiläufig gestreuten Intermezzi. Etwa wenn der Fährmann sich in seinem Boot an einem Seil vom einen zum anderen Ufer des südpolnischen Karpatenflusses hangelt. Scheinbar rückständiges Leben ist ein Vorteil in Sachen Nachhaltigkeit – freilaufende Hühner, selbst gezogenes Gemüse. Was aber auch als Indiz für Armut gesehen werden muss. Auch ist das ärmliche Dorfleben in dieser südpolnischen Provinz nicht gar von Nachbarschaftlichkeit geprägt, eher von Missgunst und Neid. Und von gar rohem Umgang in den Familien. Ein heruntergekommenes Haus und der es umgebende Müll sind symptomatisch. Passend dazu verdingt sich Pawe? mit dem Ausschlachten nicht mehr gebrauchsfähiger Autos und lebt noch bei seiner geistig verwirrten Mutter, die vor dem Bett, das er gerade mit seiner Verlobten teilt, aus Protest nässt. Später, als die widerspenstige Mama bereits ins Irrenhaus »entsorgt« wurde, wird deren versifftes Bett ins Freie getragen. Zig Schaben tummeln sich darauf im Sonnenschein.
Parabel auf weiter wirkende Verhältnisse
Parallel blenden die Sasnals auch ins Dasein der Familie der Verlobten, die später zur Komplizin der ganzen Nachbarschaft wird. ?berhaupt scheint das Provinzleben nur Tristesse zu bergen. »In jedem Dorf hat er sein Sperma gelassen«, sagt die junge Verkäuferin des Dorfladens und schiebt mürrisch den Kinderwagen neben der Kassa, und meint aber damit den Ladenbesitzer. Mysteriöserweise verschwindet auch Pawe?. Das Haus mit den großen, unpassenden Plastikfenstern wird allmählich geplündert und in einer finalen Nacht kulminiert das Ganze, indem die Nachbarn vom demolierten alten Hausrat ein Feuer entfachen. Irgendwie wirkt diese Crux unglaubwürdig. Doch war da nicht die Frage des kleinen Bruders, dass im Fluss Tote gefunden wurden? Man verortet die Frage im Hier und Jetzt, Papas Antwort jedoch bezieht sich auf die Zeit der Nazibesatzung. »Da haben einige Mütter ihre Kinder getötet, bevor sie selbst in den Tod gingen. Sie waren aber keine Polen.«
Die Sasnals sehen sich im Gegensatz zu den wunderlichen Geschichten von Andrzej Stasiuk. Der im äußersten Südosten Polens an der Grenze zur Ukraine (ehemals Galizien) lebende Schriftsteller setzt schrulligen Außenseitern oder kolossalen Alkoholikern überzeugende Denkmäler. Der Rand der Gesellschaft fasziniert Stasiuk wie die Sasnals, wirkt jedoch bei letzteren insgesamt brüchiger. Mit nur beiläufig gesetzten Dialogen und bestens gecasteten Akteuren wird eine Parabel über das Verhältnis von Polen und Juden erzählt. Sind (Schrott)-Händler nicht generell verdächtig? Hier geht es nicht mehr um Ressentiments gegen den schwächeren Außenseiter, sondern um das sich Bedienen am Gut des Fortgefahrenen. Gemeinsam sind wir stark ?? Unweigerlich dämmert einem, dass genau das das Thema des Films sein muss. Wo alle dem Ruin nahe scheinen, schreckt kaum einer aus der Gesellschaft mehr vor Grausamkeit zurück. Die Verlobte schaut dem Treiben zu und rächt sich erst später, indem sie die Hunde der räuberischen Nachbarn vergiftet. Pawe? kehrt zurück und fährt seine Braut durch Waldstreifen entlang von sonnentrunken glänzenden Feldern. In der sommerlichen, flirrenden Hitze steigt sie aus dem Auto, bewegt sich auf die Kamera zu – mit einem surrealen Motiv mehr bleibt das Ende offen.
Schmerzensmeisterwerk im ruralen Off
Die Bitternis von bäuerlichem Leben vermögen Béla Tarr/Ágnes Hranitzky noch eindringlicher einzufangen. Ihr 146 Minuten währender düster-eleganter s/w-Epos »A Torinói Ló/The Turin Horse« nimmt Bezug auf Nietzsche, der 1889 gegen einen Kutscher einschritt, der sein Pferd schlug. Im Grunde geht es aber um das Verdämmern des Lebens auf einem Hof in einer ungarischen Einschicht. Schon der großartigen Musik von Míhaly Víg ist das Unheil eingewoben. Selbst der draußen anhaltend brausende Sturm kommt darin überwältigend zur Geltung, doch ist das Um und Auf ein dunkel schwärendes Orgelmotiv, das repetitiv immer wiederkehrt. Dazu machen der Fuhrmann und seine Tochter die immergleichen Verrichtungen. Zur kargen, musealen Einrichtung passend: Als Mahlzeit gibt es immer nur je eine große Kartoffel, die mit den Händen verzehrt wird. Nachdem bereits der Hausbrunnen versiegt ist verweigert nach dem traurigen Gaul schlussendlich auch die Tochter das Essen. Selten zuvor sah man Sterblichkeit derart unweigerlich in einen Film eingeschrieben und so sehr von spiritueller Magie durchströmt.
Road Movie versus Verkehrsrückdrängung
Rar geworden ist auch das Zeigen von Trauerfeierlichkeiten. Wer sich drauf einlässt, dem kommen in Konstantin Bojanovs »Avé« die Tränen. Die Protagonistin Avé (not)lügt im Kreise der Familie ihres Road-Movie-Partners Kamen wieder einmal, indem sie der Annahme stattgibt, die Freundin des mit Suizid aus dem Leben geschiedenen Sohnes zu sein. Die Autostop-Fahrten von Sofia nach Russe bringen nicht nur das ungleiche Paar einander näher, sondern auch schöne Einblicke in das Leben im postsozialistischen Bulgarien. Nettes Bonmot am Rande: Anjela Nedyalkova, die famose, auch im Publikumsgespräch äußerst liebenswürdige Hauptdarstellerin, wollte zu einer Party nach St. Pölten stoppen. Nebenbei bemerkt ist diese Tatsache Nedyalkovas weiteren Talenten (Festivalmitorganisatorin, DJ) geschuldet. In nächster Zeit soll ein Elektronikmusikalbum von ihr erscheinen.
Partys der etwas anderen Art machten die Aktivsten von New World in der Estnischen Hauptstadt Tallinn, um ihr Ziel, die Zurückdrängung des ausufernden Autoverkehrs zu erreichen. Jaan Tootsen hat die unkonventionellen Studenten über die Jahre begleitet und dokumentierte fröhlich-kreative Maßnahmen wie das Aufmalen von Zebrastreifen oder das Okkupieren von Autoparkplätzen mit legalen Parkpickerln. Schön, dass in »Uus Maailm«/»The New World« das Heranwachsen eines Kindes ebenso beobachtet werden kann, wie die zunehmende Professionalisierung, aber auch viel Fortwurstelungsfrust der ähnlich einer Hippiekommune zusammen Lebenden. Das Fazit im Publikumsgespräch stimmt doch einigermaßen froh. Wenngleich das gemeinsame Haus geschlossen werden musste, ist nun der dortige Straßenzug eine verkehrsberuhigte Zone und die Hauptorganisatorin sogar eine wichtige Mitarbeiterin des estnischen Staatspräsidenten geworden. So aufgeschlossen gegenüber Störenfrieden die eine bessere Welt wollen ist man in Üsterreich lange noch nicht. Dass sich 75 % der Tallinner für die Gratisbenutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln aussprachen, hat aber nichts mit Uus Maailm zu tun, sondern damit, dass der Bürgermeister wieder gewählt werden will.
Von Nowa Huta nach Montevideo
Damit sich der Kreis schließt, seien noch zwei Dokumentarfilme herausgegriffen, die einmal mehr die hohe Qualitätsdichte der »Local Artists«-Schiene bestätigen. Dariusz Kowalski gelingt in »Richtung Nowa Huta« ein rundes Porträt des Krakauer Stadtteils, dessen Staalhütte mit nunmehr 5.000 Beschäftigen nach wie vor ein wichtiger Arbeitgeber ist. »Crazy Guides« etwa ist eine schlüssige Erfindung. Ein Trabant fährt durch das mit Stalinarchitektur gesäumte Gebiet und der Fahrer, ein Student, erweist sich als kompetent-präziser Kenner der historischen Ent- und Verwicklungen, die auch anhand von Rückkehrer-Interviews oder in Gesprächen mit Jugendlichen, Lehrenden oder Verwandten des Dokumentaristen eine wunderbare Bestandsaufnahme ergeben. Die einstige sozialistische Vorzeigestadt und Solidarno??-Hochburg ist im 21. Jahrhundert angekommen.
Zurück ins 20. Jahrhundert führt ein für Europa nicht untypisches Exil-Schicksal. Erich und Libertad Hackl widmen einem wegen seiner jüdischen Herkunft vertriebenen Wiener ein einfühlsames Filmporträt. Fritz Kalmar (1911-2008) plagte das Heimweh, auch wenn sich das offizielle Üsterreich nie um ihn bemühte und war hin und hergerissen zwischen zwei halben Heimaten. Kalmar blieb in Uruguay, weil er als österreichischer General-Honorarkonsul und Südamerikakorrespondent für diverse Medien Anerkennung genoss. »Der Heimwehträger« rückt dieses Ent- und doch Verwurzeltsein ins Zentrum und zeigt, dass Kalmar stets ein liebenswürdiger Mensch blieb. Die Erkenntnis, auch aus eigenem Verschulden und nicht nur infolge der gesellschaftlichen Umstände falsch gelebt und all zu lange seinen künstlerischen Neigungen entsagt zu haben, kommt nicht ohne Bitternis rüber: »Ich bin ein spätentwickeltes Kind. Es kam in meinem Leben alles zu spät.« Interviews mit Verwandten und Mitgliedern seiner uruguayanischen Ersatzfamilie lassen viel über den Kosmos erahnen, in dem sich Kalmar bewegte. In La Paz als Mitbegründer der überparteilichen Exilorganisation Federación de Austríacos Libres oder eben in Montevideo u. a. als sich für Entrechtete der Militärdiktatur Engagierender. Nur selten, etwa um die Zeit in Bolivien zu illustrieren, werden Fotos oder Dokumente eingeblendet. Somit lenkt dankenswerterweise nichts ab von den Erzählungen im Gespräch en face. Und doch ist die Eingangssequenz jene, die am lebhaftesten in Erinnerung bleibt, weil sie die unglückselige Opfer-statt-Täter-Mentalität in Üsterreich auf den Punkt bringt. Fritz Kalmar fährt mit dem Auto an den Stränden Montevideos entlang und erzählt von vom ersten Üsterreichbesuch in den 1950er Jahren, den er mit Ehefrau Erna absolvierte. In Arnoldstein, der ersten österreichischen Bahnstation auf dem Weg von Genua nach Wien, sprach ihn eine Frau aufgrund des vielen Gepäcks an. Auf seine Auskunft, dass er 1939 emigrieren musste, sagt die Kärntnerin: »Da haums jo gor nix mitg?mocht«.
»Z Daleka Widok Jest Pi?kny«/»It Looks Pretty From A Distance«. Polen 2011. Regie: Anka und Wilhelm Sasnal. DarstellerInnen: Marcin Czarnik, Agnieszka Podsiadlik u. a.
»A Torinói Ló/The Turin Horse«. HU/FR/CH/DE 2011. Regie: Béla Tarr/Ágnes Hranitzky. DarstellerInnen: Erika Bók/János Derzsi/Mihály Kormos/Ricsi.
»Avé«. Bulgarien 2011. Regie: Konstantin Bojanov. DarstellerInnen: Anjela Nedyalkova, Ovanes Torosyan u. a.
»Uus Maailm«/»The New World«. Estland 2011. Regie: Jaan Tootsen.
»Richtung Nowa Huta«. Üsterreich 2012. Regie: Dariusz Kowalski.
»Der Heimwehträger«. Üsterreich 2012. Regie: Erich Hackl/Libertad Hackl. Dazu eine Buchempfehlung: »Das Herz europaschwer: Heimwehgeschichten aus Südamerika«. Wien 1997, Picus.
Crossing Europe Filmfestival Linz, 24.-29. April 2012