Einen Stil zu haben ist noch lange keine Garantie, auch »Karriere« zu machen, muss man doch bei einer Karriere im Musikbereich bedenken, dass sie sich über vierzig, fünfzig Jahre erstrecken kann (gerade erst ist Benny Carter im Alter von 95 gestorben). Der Jazzpianist René Urtreger hat so viele Höhen und Tiefen des Musiklebens kennengelernt, dass sein Werdegang seit den frühen 50ern nicht einfach zu verfolgen ist. Neben Musikern wie Martial Solal, Misha Mengelberg oder Gordon Beck ist er vermutlich dennoch einer der wenigen wichtigen europäischen Meister des Jazzpianos. (Und auch in seinem Fall trifft zu, dass seine Veröffentlichungen kaum mehr im Handel erhältlich sind, ein Umstand, dem er durch seine Abneigung gegen Aufnahmesessions nicht gerade entgegenwirkte.) Urtreger begann in Paris und spielte schon bald mit allen seinen dort ansässigen amerikanischen Helden, von Lester Young bis zu Kenny Clarke oder von Chet Baker bis zu Dizzy Gillespie. Am stärksten beeinflussen sollten ihn Charlie Parker und Bud Powell, wobei er vermutlich einer der ersten war, der ihr Genie erkannte, dafür stand er aufgrund seines an Powell erinnernden Spiels bisweilen in dessen Schatten. Nach einer langen Reihe von Sessions hier und dort und dem legendären Soundtrack zu »L’ascenseur pour l’échafaud« mit Miles Davis kam seine Karriere etwas ins Stocken, und in den 60ern begleitete er viele französische Pop- und Yéyé-KünstlerInnen.
Die Wiederveröffentlichung des gesamten Carlyne-Katalogs ist das Verdienst seiner Schwester Jeanne de Mirbeck und dokumentiert sein Comeback Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre. Von »Jazzman« bis zur Quintett-Einspielung »En direct d’Antibes« haben alle diese Aufnahmen etwas, das man heutzutage nirgendwo mehr hört. Urtreger ist nicht nur ein herausragender Instrumentalist, sondern der Repräsentant einer ganzen Generation, die sich in Paris herausbildete, als Django Reinhardt in seine allerletzte elektrische Periode trat. Für alle, die Jazz gerne so hören würden, wie sie ihn nie zuvor gehört haben – oder vielmehr: einfach als Jazz – werden Reissues wieder einmal eine phantastische Entdeckung sein. Und auch René Urtreger wird für viele eine große Überraschung sein. Vive le Roi René!
René Urtreger
Carlyne Reissues #01-#04
Universal
Text
Friederike Kulcsar (Übersetzung), Noël Akchoté
Veröffentlichung
12.12.2003
Schlagwörter
56
American Recordings/Universal
René Urtreger
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