Es folgt einer Ironie des Schicksals, dass die Lektüre eines der seit langer Zeit am stärksten Fernweh auslösenden Bücher mit einer obligatorischen Heimquarantäne zusammengefallen ist. Gleichzeitig kann so eine Vermischung durchaus auch dazu verleiten, sich zu fragen, wie weit man seinen eigenen Geist erweitern kann, um mit seiner Hilfe nicht in häuslicher Isolation zu verzweifeln. Die Lektüre von Lynn Hills Autobiografie »Climbing Free« sowie die (Wieder-)Lektüre von Olga Tokarczuks »Flights« (im polnischen Original: »Bieguni«) lösen beide (und auch gerade in dieser sehr ungewöhnlichen Gegenüberstellung) dieses Gefühl von ungeahnter Möglichkeit aus. Auch die Möglichkeit zur Muße, die gerade in diesen Zeiten eine sehr dankbare Eigenschaft ist. So bleibt neben dem Träumen in ein Draußen auch endlich die Ruhe, sich etwa einigen der seit geraumer Zeit verstaubenden Gedichtbänden im Bücherregal zuzuwenden, die ebenso einen möglichen Raum im Drinnen eröffnen. So hat die Isolation auch eine intensivere Lyriklektüre provoziert, die besonders in zwei Sammelbänden, einer von Selma Meerbaum-Eisinger, der andere von Hilde Schmölzer, Wurzeln geschlagen hat.
Thinking Free
»Meine Einstellung gegenüber dem Leben ähnelt tatsächlich in vielerlei Hinsicht meiner Einstellung zum Klettern. Für mich ist das Klettern ein Mittel, um einen Zustand reinen Bewusstseins zu erlangen, bei dem es keine Ablenkungen oder Erwartungen gibt.« Hills 2002 erschienene Biografie (in der deutschen Übersetzung von Heike Schlatterer) schafft es, nicht nur Kletternde durch ihre offensichtliche Leidenschaft für den Fels anzusprechen, sondern wird auch jeden Nicht-Kletterenden überzeugen. Denn Hills Geschichten präsentieren vielmehr eine Lebenseinstellung, die vor allem durch das Credo geprägt ist, sich seine Freiheit auch in den unmöglichsten Situationen erkämpfen zu können. »Ich bewundere zwar vieles an Gebräuchen und Traditionen, doch da ich mich meinen eigenen wenig verbunden fühle, bin ich spontaner im Umgang mit Menschen, Sprachen und Kulturen.« Hills Spontanität fruchtet ironischerweise ganz gegensätzlich aus einer Praxis des Kletterns, in der die Spontanität – die speziell Lynn als Frau besonders kleiner Statur oft ausgesetzt war – sie dazu zwang, kreativer über alternative Möglichkeiten einer Route nachzudenken. Es war also gerade die Ausgesetztheit eines Körpers, die die Spontanität beflügelte, die Hill schlussendlich ihre Freiheit gab. Die »Verurteilung zur Freiheit«, jene Aussage Jean-Paul Sartres und gleichzeitig einer der leitenden Gedanken des Existentialismus, der bedeutete, dass wir mit nichts anderem als unserer Immanenz für unser Handeln verantwortlich sind, wird von Hill in ihrem Modus des Kletterns – und dem daraus abtgeleiteten Denken – perfekt porträtiert.
Dreaming Wide
Diese Ambiguität – das Alternieren zwischen unserem begrenzten Körper und unserem grenzenlosen Geist – war auch der Grund, ebenso Olga Tokarczuks 2007 geschriebenes Buch »Flights« (welches aber aufgrund seiner ebenso exzellenten englische Übersetzung von Jennifer Croft 2018 wieder große Aufmerksamkeit bekam) wieder zur Hand zu nehmen. Die in kurzen, teils unzusammenhängenden Passagen erzählten Ereignissen, die sich alle ums Reisen (auch im sehr weiten Sinne) drehen, stellen ebenso ein Bild von Möglichkeit in den Raum, die wie bei Hill dazu beflügeln, eine Odyssee ins Ungewisse seines eigenen Gedankenraums zu beginnen. »That evening is the limit of the world, and I’ve just happened upon it, by accident, while playing, not in search of anything. I’ve discovered it because I was left unsupervised for a bit.« Diese traumhaft erzählte Sequenz aus der Perspektive eines kleinen Kindes, das von der Fensterbank Erkenntnisse über seine Umwelt anstellt, zeigt offen, wie viel man auch nur in seinen eigenen vier Wänden an Reise anstellen kann. Die ständige Konfrontation mit Aussagen über die unbezwingbare »Langeweile«, die die letzten Wochen geprägt haben, wird nach dieser Lektüre nicht mehr akzeptiert. Denn Tokarczuk beweist in ihrem Schreiben, in welche unersättlichen Möglichkeiten man sich selbst denken und versetzen kann.
Feeling Outside-Inside
»Ich wiege und wiege mich ein / mit Träumen bei Tag und bei Nacht / und trinke den selben betäubenden Wein / wie der, der schläft, wenn er wacht.« Diese Zeilen stammen aus dem Gedicht »Schlaflied für mich« der rumänisch-deutschsprachigen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger, die 1942 nur 18-jährig an Entkräftung in einem Zwangsarbeitslager der Nazis starb. Das erst 1980 wiederentdeckte schmale 57-Gedichte-Werk Meerbaum-Eisingers zählt inzwischen zur Weltliteratur und birgt einige Anstöße zum Träumen und Staunen gerade durch seinen Minimalismus. In vielen der meist naturbezogenen Gedichte findet sich doch immer der Blick des Menschen und seiner Gefühle, die er bewusst (oder unbewusst) über seine Außenwelt spannt. Gerade deswegen bildet Meerbaum-Eisingers Sprache auch gerade in so »introvertierten« Zeiten wie jetzt ein wundervolles Echo zu dem, was vielen von uns nach langer Zeit vielleicht wieder durch die Köpfe schwirrt. »Die Fenster blicken auf die Straße und sie glauben, / daß dort sei alles nur für sie getan. / Der Spiegel glänzt und in ihm tickt die Uhr, ganz weit im fernen Dorfe kräht ein Hahn / und die Gardinen bändigt eine blaue Schnur. / Die Nelke mit den zarten roten Spitzen / harret des Sonnenstrahls, der durch die Ritzen / ihr heut ein Kleid aus Goldstaub angetan.« (Aus dem Gedicht »Stille«)
Living Inside-Out
Eine andere Dichterin und Autorin, die in diesem Kontext erwähnt werden soll, ist die Österreicherin Hilde Schmölzer, die erst 2012 die gesammelten Gedichte ihrer Jugend aus den 1960er-Jahren in einem Sammelband veröffentlichte. Auch Schmölzers Sprache ist getragen von einer traumhaften Melancholie, die immer irgendwo zwischen Zuversicht und Schmerz pendelt und dabei ebenfalls einen wunderschönen Sehnsuchtsraum kreiert. »Es gibt Nächte / in denen ich nicht schlafen kann / weil das Dunkel / wie eine Katze ist / deren schmale Augen / die Schatten prüfen / und die Einsamkeit / zwischen schwarzen Steinen hockt / um in die offenen Gruben / meiner Gedanken zu fallen.« Schmölzer gibt (ähnlich wie Meerbaum-Eisinger) den Dingen und dem Erleben dieser Dinge eine Lebendigkeit, die uns die Möglichkeit aufzeigt, wie weit unsere Erfahrung der Welt zu begreifen sein kann, ohne überhaupt das Zimmer zu verlassen. Und es ist diese Weite, die wir jetzt trainieren können, um sie später auch draußen gebrauchen zu können. Jetzt ist es möglich, unser Erfahren zu verfeinern, um nicht zu schnell in Frustration zu vergehen. Denn wenn die Welt sich erst ihrem Alltag wieder zuwendet, dann wird so ein Umdenken auf neue Möglichkeiten, gerade nach einer so großen Krise wie jetzt, hilfreich sein. »Es gibt so viel / so viel das hofft, / geweckt zu werden / so viel im Zittern / der gespannten Sehne / die den Pfeil geliebt / so viel im hellen Milchglas / der Erwartung.«