Überall sprießen gerade die Texte der Zukunftsforscher*innen aus dem morastigen Boden und werden fleißig im Internet und sozialen Medien geteilt. Hier sollte analog zur Reisewarnung unbedingt eine Lesewarnung erlassen werden. Denn dieser Zukunftsunsinn verklebt die Hirnwindungen der bereits an Isolation leidenden Stubenhocker*innen und kann ihnen den letzten Mut rauben. Zukunftsforschung ist vor einigen Jahren installiert worden und ihre Vertreter*innen ähneln einander frappierend, denn sie scheinen wohl alle in die gleiche Zukunft zu sehen. Heutige Futurolog*innen sind nicht mehr so liebenswürdige, drogenvernebelte Witzfiguren wie bei Stanislav Lem, sondern es sind sich sehr ernstnehmende Anzugträger (Frauen gibt es fast keine unter ihnen), die zufällig alle ausnahmslos »wirtschaftsnah« denken. Folglich haben die Zukunftsforscher*innen oft eine Professur, zumindest einen Buchvertrag und dauernd eine Interviewcouch unter ihren zukunftszugewandten Gesäßen. Das ist natürlich kein Zufall. Denn die wahre Aufgabe der Zukunftsforscher*innen ist es, dafür zu sorgen, dass es keine Zukunft gibt. Die haben ihre Sponsoren nämlich abgeblasen. Der Kapitalismus kennt kein Morgen und er will auch keines kennen, denn jede wahre Zukunft impliziert Änderung und die könnte Machtverschiebungen beinhalten. Deswegen trompetet die Zukunftsforschung von einem Tomorrow, das verdächtig nach Yesterday klingt.
Zeitkrankheit
Das falsche Zeitverhältnis dieser Forschungsdisziplin ist zunächst augenfällig. Als Wissenschaft hat sie keinen Gegenstand, denn die Zukunft ist ja eben Zukunft, weil sie noch nicht ist, und entzieht sich somit jeder Untersuchung. Hingegen ist Prognosen aufzustellen und damit Vorhersagen über zukünftige Ereignisse zu machen – mutatis mutandis – Aufgabe einer jeden Wissenschaft. Das ist alles so simpel, dass jede weitere Erklärung rabulistisch klingen muss und besser unterbleibt. Nur zeigt sich jetzt in der Corona-Krise eine typische Zeitkrankheit, die von den Zukunftsforscher*innen lupenrein verkörpert wird. Indem die Futurolog*innen fleißig Aussagen machen über die Zeit nach Corona, stellen sie diese Zeit wie eine bereits erforschbare Gegenwart dar. Dabei erleiden sie einen Taumel durch Zeitverlust. Die zurechtgebastelte Zukunft wird zu einem Comicstrip, der die gegenwärtige Handlungsmöglichkeit unterminiert. Und genau das ist es, was das entmündigte Individuum tun soll: Es vergisst seine Zeit, seine aktuelle Handlungsmöglichkeit und verliert sich im Sinnieren über das Future-Wolkenkuckucksheim. Was aktuell aber tatsächlich passiert, ist eine Krise und die müsste eben als solche erfahren werden. Die Natur der Krise liegt darin, dass das Alte stirbt, aber das Neue noch nicht geboren werden kann, wie ein gewisser Herr Gramsci klug erkannte.
Eine Krise ist auch nur dann eine Krise, wenn sie einen ungewissen Ausgang hat. Wird sich bald alles wieder einrenken und der alte Stiefel weitergelebt (unwahrscheinlich)? Oder kommt der große Knall, indem ein Zehntel der Weltbevölkerung in den nächsten zwei Jahren sterben wird und entsetzliche, faschistische Diktaturen aus diesem Elend erwachsen (auch unwahrscheinlich – thank god)? Ob die Krise der Gegenwart nun vielleicht sogar genutzt werden kann, ist eine enorm schwierig zu beantwortende Frage. Klar ist aber, sie kann allenfalls nur dann genutzt werden, wenn sie eine lebendige und erlebbare Wirklichkeit ist. Und genau diese Gegenwart geht in dem seidenweichen Gesülze der Zukunftsforschung verloren.
Bitte keine »guten Ideen« für die Zukunft
Die Krise hat bereits zu schweren Verwerfungen geführt. Dies zeigt sich spätesten daran, dass nun sogar Britney Spears Postings macht, die so klingen, als hätte sie sie aus dem unveröffentlichten Teil der Marx-Engels-Gesamtausgabe (»Einträge Marx’ in Poesiealben«) exzerpiert. Da kann ja was nicht stimmen. Was nicht heißen soll, dass Spears nicht zu Einsichten fähig ist. Die Frage wäre nur, wie sie diese an ihren Publicists vorbeischleusen soll, die viel zu genau auf die Einhaltung der Produktrichtlinien ihres großen Stars achten. Britney Spears wundersames und geheimnisvoll schönes Seelenleben zeigt sich somit nicht in ihren Posts, sondern in diesen ist die hässliche Fratze der Herrschaft zu erkennen. Die lässt nämlich durch die willfährigen Stars mitteilen: »Lasst uns ein bisschen mehr teilen, wir sitzen doch alle im selben Boot«. – Nein, sitzen wir nicht. Die einen sitzen nämlich mit drei Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und die anderen auf einer Yacht. Die einen haben den ungeheuren Luxus, sich in Sicherheit bringen zu können, durch eine so gut funktionierende Gesellschaft, durch die ihnen die Isolation überhaupt ermöglicht wird. Die anderen müssen Regale schlichten oder in der Notaufnahme arbeiten und ihr Leben gefährden. Folglich werden »wir« auch nicht »gemeinsam« etwas aus der Krise lernen, wie es uns neben der Queen of Pop auch die durchgeknallten Zukunftsforscher*innen weißmachen sollen. Das sind nur verschlagene, rhetorische Adaptierungsmaßnahmen und somit Herrschaftsstrategien.
Was die Futurolog*innen an konkreten Zielen im Gepäck haben, ist immer eine abgenudelte New-Age-Kacke, die heute noch weniger authentisch klingt, weil sie nicht unter Drogeneinfluss gewonnen wurde. Auch macht es die alte Leier nicht besser, wenn sie vierzig Jahre später nochmals wiederholt wird. Wenn jetzt beispielsweise die Multimillionärin und Superhelden-Superstarfrau Gal Gadot am Balkon »Imagine« trällert, um den Menschen einmal richtig doll Mut zu machen, dann wird sie dafür füglich in der Luft zerrissen. Es nützt nichts, dieser Stumpfheit zugute zu halten, dass das »Imagine no possessions / I wonder if you can« auch bei John Lennon schon a bit rich war. Viele müssen sich das nicht erst vorstellen, die sehen es jeden Tag mit eigenen Augen. Unvorstellbar wohl für Gadot und Lennon.
Deswegen sind genau jene Äußerungen der Zukunftsforscher*innen zum aus der Haut fahren, die jetzt prätendieren, die Menschen würden in der Corona-Krise etwas über den Konsum lernen und endlich bemerken, wie oberflächlich sie gelebt haben. »Imagine einmal!« Das ist Bullshit der ganz harten Sorte. Niemand lernt, wie unwichtig etwas ist, wenn man es ihr oder ihm wegnimmt. Die No-Masturbation-Week im Pfadfinderlager (wie immer die auch durchgesetzt wird) zeigt keinem Teenager die Oberflächlichkeit seiner Lust. Konsumverzicht aus Zwang birgt keine Erkenntnisse und dies zu behaupten, ist eine Gemeinheit. Menschen, die einen sinnlosen Job haben und ein ökonomisch beschränktes Leben führen müssen, erleben es vielleicht als Freude, sich einmal die Woche beim Pimkie ein neues Leiberl zu kaufen. Wenn Zukunftsforscher*innen hier Anteilnahme ob eines »sinnarmen« Lebens heucheln, dann ist Vorsicht geboten. Die nächsten Jahre könnten schwerwiegende Einschränkungen bringen. Ein Kniff autoritärer Macht bestand immer darin, den Leuten die Schuld am eigenen Elend einzureden: »Oh, wir waren ja so oberflächlich und konsumversessen, jetzt haben wir die Quittung!« Nein, niemand ist für die Sinnlosigkeit seines Lebens allein verantwortlich, da trägt die Gesellschaft große Mitschuld. Zukunftsforscher*innen können dies nicht darstellen, weil ihnen der Gegenwartsbezug durch ihre seltsame Profession fehlt, und somit verschleiern sie genau solche Zusammenhänge. Deswegen sollten ihre Bücher unbedingt nicht gelesen werden. Und zwar gerade jetzt nicht!