Irreversible Entanglements © Bob Sweeney
Irreversible Entanglements © Bob Sweeney

Befreiung der Seele

Camae Ayawa aka Moor Mother kämpft in vielen Ensembles an vorderster Front. Und doch erstrahlt ihr zorniger Gesang im Free-Jazz-Quintett Irreversible Entanglements in kraftvollerer Würde denn je. »Who sent you?« ist ein Meilenstein afroamerikanischen Empowerments.

Vorwort: Der Tod von Henry Grimes (*3.11.1935, †17.04.2020) verstört zutiefst. Der Bassist spielte mit zahlreichen Kapazundern der Jazz-Avantgarde (Albert Ayler, Pharoah Sanders, Sonny Rollins, Thelonius Monk, Benny Goodman etc.), ehe er Ende der 1960er die Musik aufgab. Von einem jazzbegeisterten Sozialarbeiter wurde der Totgeglaubte aus der Gosse geholt und feierte ein spätes Comeback mit seinem Trio, das ihn auch nach Wien ins Porgy & Bess führte. Und nun ist er gestorben, untröstlicherweise an COVID-19, was auf das für unterprivilegierte Afroamerikaner*innen fatal unterentwickelte US-Gesundheitssystem zurückzuführen ist. »Who sent you?«, das großartige Album der Irreversible Entanglements, die in ihrem Namen möglicherweise auf die globalen, Menschenrechte verachtenden Verflechtungen der Weltwirtschaft verweisen, sei ihm als Vermächtnis gewidmet. Aufstehen und gegen die Unbill einer rassistischen, die Reichen bevorzugende Welt kämpfen!

Irreversible Entanglements © Bob Sweeney

»The Code Noir / Amina«
Tcheser Holmes lässt sein Schlagzeug holpern und poltern und rührt die Schellen, um die Dramatik von Ayawas Lyrics zu betonen. Bassist Luke Stewart rumpelt eine wohldurchdachte Linie und Saxophonist Keir Neuringer und Trompeter Aquiles Navarro können sowohl unisono als auch solo rausschreien. Die zum aus der Haut fahrenden Texte Ayawas sind in diesem Kontext wohl am eindringlichsten aufgehoben, begleitet von Free Jazzern, die Musik in ein ureigenes dis- und harmonisches Universum zugleich hieven. »The Code Noir / Amina« hebt an:

Mississippi …
Holy Hill, South Carolina
A mountain ain’t nothin’ but a tombstone for fire
And you can’t save the night here in America
where we forget the names of our ancestors
and scream out into the void, helpless, without courage
We forget how strong our grandfathers’ hands
brick by brick building new America
and our mothers and our mothers giving birth to us
the first wonder of the world the spinning egg
And we use her and abuse her every nine seconds
every nine seconds, ticking
Lost, lost, no direction

At what point do we stand up?
At what point do we stand up?
At the breaking point?
At the point of no return?
At what point?
At what point do we pull each other up?
Up out of a void, up out of a hell
At what point, at what point?

At what point do we give a shit,
do we stand up and say something?
When do we go off script?
When we step out of a daze,
dumbfounded and dazed,
Return back to humanity
At what point?

Irreversible Entanglements © Bob Sweeney

»Who sent you? – Ritual«
Es schnürt einen förmlich den Hals zu, hört man »Who sent you? – Ritual«, den zweiten Track dieses sinnstiftenden Tonträgers. Derart Eindringliches über die widerrechtlichen Verfolgungen von Afroamerikaner*innen durch die rassistische US-Polizei hat bislang kein Act aus anderen Genres wie HipHop zustande gebracht. Die Band rast in hohem Free-Jazz-Tempo und Ayewa ruft gespenstisch oft »Who sent you?« und stellt die Frage nach der Berechtigung. Nach sechs atemraubenden Minuten hat das NYPD Akai Gurley erschossen, die Band hält inne und schwenkt auf lyrisch-expressiv. Der zweite Teil »Ritual« ist eine spirituelle Ausflucht und bietet so etwas wie musikalisches Seelenheil.

2015 fanden die Mitglieder der Irreversible Entanglements zusammen, während einer Protestveranstaltung der Musicians Against Police Brutality, bei der sie als Reaktion auf den Mord an Akai Gurley in verschiedenen Ensembles spielten. Ihr gemeinsam geteiltes Ethos führte auch gleich zu spontanen Studioaufnahmen im Seizureʼs Palace in Brooklyn. Daraus resultierte 2017 das selbstbetitelte Debütalbum, das Auftritte etwa beim Pitchfork Music Festival in Chicago, beim Le Guess Who Festival in Utrecht bzw. Kollaborationen mit Amina Claudine Myers, Pat Thomas und Nicole Mitchell zur Folge hatte.

Irreversible Entanglements © Bob Sweeney

»No Más« – »Nicht mehr«
Ein toller Signature Song ist »No Más«. Hier ist das Saxophon ayleresk at its best. Vielvertrauter Gospel steckt in dieser melodiösen Saxophon-Trompeten-Free-Jazz-Sirene samt Latin-Rhythmen mit hier übersetzten Schlüsselzeilen: »Wir werden ihnen nicht mehr erlauben, zu teilen und zu erobern, zu spalten und zu unterdrücken, unsere Menschlichkeit zu definieren …«.

Filmemacher/Fotograf Imani Dennison drehte in Johannesburg ein beeindruckendes Video zu dieser Single. Einmal mehr wird die Geschichte der Suche der Afroamerikaner*innen und Schwarzafrikaner*innen nach Befreiung erzählt. Die Flucht aus der irdischen Welt via Raumfahrt erscheint zwar als utopische Vision, die im Film als poetischer Ausweg aus der Unterdrückung aber durchaus als reale Freiheit erlebt werden kann.

»Blues Ideology« und »Bread Out of Stone«
Die nervös irrlichtende »Blues Ideology« prangert die Machenschaften und die Verstrickungen der katholischen Kirche in den Kolonialismus an: »…drunk drunk drunk hoodoo holy ghost force feeding a lie drunk with power up in the vatican getting drunk with the devil getting drunk with power…«. Moor Mother geht hart ins Gericht mit der Ungleichheit, die von den Kirchen mitbefördert wurde. Anstatt dass diese beseitigt wird, wird der Spalt zwischen Arm und Reich größer. Klar kommt heraus, dass ein wichtiger Wert auch darin besteht, sich auf seine eigenen Stärken zu besinnen.

Die Ahnenspur dieser unvergesslichen Ritual-Tradition wird in »Bread Out of Stone«, dem letzten Song, noch einmal, doch diesmal in sparsamerer Begleitung, aufgenommen. Schön, wie sich die Drums locker in eine Bassfigur reinmengen und Ayewa zu klaren Spoken Words findet. Eigentlich ist die Zeit der Abrechnung gekommen. Ein nachdenklich machendes lyrisches Nachwort:

Ritual Tradition
Passed down
Timeless degrees of freedom
Making bread from stone
Tradition
The ideology of blues
Time and space reunited
The selling and slaving of a true time
In the valley of fear
Tells of unrest
Time reckoning
Passed down

Irreversible Entanglements: »Who sent you?« (International Anthem/!K7/Indigo)

Link: https://www.irreversibleentanglements.com/

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