Stuart Halls Autobiografie entstand in Gesprächen mit seinem früheren Schüler, Kollegen und Freund Bill Schwarz. »Ich selbst sehe mich als Lehrer, aber das scheint den meisten Menschen nicht erhaben genug zu sein. Ich wollte ein Schwarzer Intellektueller werden (…) Heutzutage bezeichnet man mich als Kulturtheoretiker (…) Immerhin kommt es der Wirklichkeit nahe genug, um sich zu halten.«
Kultur – Macht – Identität
Stuart Hall (1932–2014) als Kulturtheoretiker zu bezeichnen, kommt nicht von ungefähr. Die von ihm nachhaltig geprägten Cultural Studies trugen wesentlich dazu bei, die elitistischen Dichotomien von Hoch- und Populärkultur(en) aufzubrechen und Kulturen generell als Bedeutungen produzierende Praktiken, Prozesse, Lebensweisen und -stile aufzufassen. Das bedeutet auch, diese politisch zu verstehen und sie machtkritisch zu analysieren. Denn Kultur, Macht und Identität bedingen sich wechselseitig. Im Feld der Kultur werden soziale, politische Identitäten mit all ihren asymmetrischen Machtverhältnissen re-/produziert. Deshalb sind kulturelle Praktiken als hegemoniale Kämpfe zu verstehen, in denen sich Dominanz und Subordination, Widerstand und Vereinnahmung, Ein- und Ausschlüsse sozialer Gruppen artikulieren.
Theoriebildung war für Hall nie akademischer Selbstzweck, sondern mit politischem Aktivismus verknüpft. In Kingston, Jamaika, als »koloniales Subjekt« geboren und aufgewachsen, kommt Hall 1951 als Rhodes-Stipendiat nach Oxford und studiert englische Literatur. Ab 1956 entwickelt sich Hall zu einer starken Stimme innerhalb der Neuen Linken in Großbritannien. Er engagiert sich für die Kampagne für nukleare Abrüstung und ist an der Gründung der »Universities and Left Review« beteiligt. Von 1960 bis 1962 ist er der erste Herausgeber der »New Left Review«. »Uns beschäftigte die zentrale Frage, inwieweit neuartige kulturelle Formen die Grenzen des Politischen veränderten und erweiterten (…) Wir sprachen kulturell über Politik und politisch über Kultur.«
Immer wieder unterstrich Hall die Bedeutung von Antonio Gramscis Hegemoniekonzept für sein Denken. Marxistisch orientiert, aber gegen reduktionistische Lesarten gerichtet, begreift Hall Kultur nicht mehr als einseitig von der ökonomischen »Basis« bestimmtes »Überbau«-Phänomen. Kultur bestimmt Klassenunterschiede mit. Auch stellt Klasse nicht die einzige »wesentliche gesellschaftliche Spaltungslinie« dar. Das Erkennen der mehrdimensionalen Verstrickungen von Klasse mit Race und Gender sowie mit einem (allmählich) intersektional weitergedachten Etcetera resultiert in einem neuen offenen Verständnis von Identität:
»Dies führte mich zu der Erkenntnis, dass Identität nicht bloß eine Kombination festgelegter Eigenschaften ist, die unveränderliche Essenz des innersten Selbst, sondern ein sich beständig verändernder Prozess der Positionierung. Wir neigen dazu, Identität als etwas zu betrachten, dass uns zu unseren Wurzeln zurückbringt, als einen Teil unseres Selbst, der über die Zeit im Wesentlichen gleich bleibt. Tatsächlich aber ist Identität ein nie abgeschlossener Prozess des Werdens – ein Prozess veränderlicher Identifizierungen, nicht eine einzelne, vollständige, fertige Daseinsform.«
Auseinandersetzung mit den Routen
Dieses prozessuale, nicht-essenzialistische Identitätsverständnis verbindet Hall mit einer Neubetrachtung von Kulturen, die permanent in Bewegung sind, »ständig neu konfiguriert durch ›Entdeckung‹, Eroberung, Migration, Adaption, erzwungene Anpassung, Widerstand und Umwandlung. Mit anderen Worten, eine Kultur nicht der ›Roots‹, sondern der ›Routes‹, nicht der Wurzeln, sondern der Wege, was zu einer Interpretationsweise einlädt, die ich hier als diasporisch eingeführt habe.«
Solche Erkenntnisse formieren sich freilich nicht von heute auf morgen. »Und dieses Buch stellt den Versuch dar, alle mir möglichen Verbindungen zwischen meinem ›Leben‹ und meinem ›theoretischen Denken‹ zu umreißen, soweit beides überhaupt trennbar ist.« Indem Hall von seinem Leben erzählt, wird sein Denken lebendig. Bemerkenswert, wie er im Lichte dieser Erkenntnisse seine Erinnerungen ordnet, um von entscheidenden Stationen des ersten Drittels seines Lebens zu erzählen. Denn seine eigene Geschichte kann nicht als die eines »diasporischen Selbst« gelesen werden, das zu den Wurzeln seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt, um von dort aus endlich zu sich selbst zu finden. Die biografischen Wege des Erinnerns zu beschreiten, das ist selbst ein Prozess, der bis zuletzt neue, auch schmerzhafte Positionierungen mit sich bringt.
Das Autobiografische ist politisch
Wenn Hall bestimmte Schlüsselerlebnisse schildert, dann verknüpft sich stets das Autobiografisch-Persönliche mit dem Historisch-Politischen. So beschreibt er, inwiefern die jamaikanischen Arbeiter*innenaufstände von 1938 Spuren in ihm hinterlassen haben. Damals war er erst sechs Jahre alt, jedoch: »Es wurde das erste bedeutende politische Ereignis, das mir im Gedächtnis blieb, und daher stellt es eine Art symbolisches politisches Geburtsdatum für mich dar.« Die Abwehrreaktionen in seiner Familie auf die bevorstehenden sozialen und politischen Umbrüche prägten sein ambivalentes Verhältnis zu den Eltern: »Ich war der Sohn einer gehobenen Mittelschichtsfamilie of Colour, deren Mitglieder wie alle in der Klasse meiner Eltern gelernt hatten, vor der Not, den Bedürfnissen, dem Streben und den Forderungen der Masse der Schwarzen um sie herum die Augen zu verschließen. Ich verstand nicht, wie meine Familie – Subalterne der alten Kolonialordnung – ihre Hoffnungen und Phantasien ganz woandershin ausrichten konnte.«
Hall resümiert nüchtern: »Die wichtigste Lehre meiner Erziehung war die Erkenntnis, wie sehr die Spannungen, Ambivalenzen, Phantasien, und Ängste einer kolonialen Kultur, zutiefst gespalten entlang der Grenzen von Race, Klasse, Colour und Geschlecht, in der penetranten, emotional aufgeladenen, kranken Welt einer kolonialen Familie subjektiv ausgelebt und verinnerlicht werden.« Als 1962 Jamaika seine Unabhängigkeit erlangte, hörte die Wirkmächtigkeit der kolonialen Vergangenheit nicht einfach auf: »Wenn wir die koloniale mit der postkolonialen Zeit vergleichen, dann haben wir es nicht mit zwei aufeinanderfolgenden Regimen zu tun, sondern mit der gleichzeitigen Gegenwart eines Regimes und seiner Nachwirkungen. Der Kolonialismus existiert weiter, trotz all der täuschenden gegenteiligen Eindrücke (…) In der Gegenwart verstecken sich immer die Gespenster der Vergangenheit.«
Um sich all dessen nicht nur bewusst zu werden, sondern die tief empfundene Deplatzierung auch in Worte fassen zu können, musste Hall zu einer neuen Sprache finden. »Wir fühlten, dass keine Sprache zur Verfügung stand, mit der sich verstehen ließ, was tief in uns allen steckte und brannte.« Unterwegs zu einer Sprache, die versucht, den vielschichtigen Differenzen gerecht zu werden, halfen Hall die Auseinandersetzung mit Marx, Freud, Saussure, Gramsci, Barthes, Foucault sowie feministische Denkerinnen wie Kimberlé Crenshaw, Historikerinnen wie Catherine Hall (seine Frau) und zahlreiche anti-rassistische, anti-imperialistische, postkoloniale Autoren wie W.E.B. Du Bois, Frantz Fanon oder George Lamming.
Kritische Begriffsarbeit
Ganz im Sinne Halls muss die deutsche Übersetzung für das Bemühen um eine möglichst diskriminierungskritische Begriffsarbeit gewürdigt werden. Die Übersetzung von Ronald Gutberlet wurde begleitet von einem Editorial Board, dem die Hall-Expert*innen Natascha Khakpour, Jan Niggemann, Ingo Pohn-Lauggas, Nora Räthzel sowie Victor Rego Diaz (Koordination) angehörten. Ebenso sorgfältig wie geschlechterinklusive Schreibweisen wurden Begriffe im Kontext von »Race« und »Colour« behandelt. Ein komplexes Unterfangen. So musste etwa berücksichtigt werden, dass die heute etablierte Selbstbezeichnung von Nicht-Weißen Personen als »People of Colour« nicht mit dem (zumindest früheren) jamaikanischen Sprachgebrauch von »coloured« übereinstimmt, »mit dem sich die Menschen mit hellerer Hautfarbe stolz von ›den Schwarzen‹ absetzen«. Hall kam, wie schon erwähnt, aus dieser »Braunen Mittelschicht«, die sich »zwischen den europaorientierten regierenden Eliten und der Masse der Schwarzen Bevölkerung Jamaikas« verortete.
Insofern also nicht explizit die körperliche Hautfarbe als analytische Kategorie gemeint ist, werden »Weiß«, »Braun«, »Schwarz« konsequent großgeschrieben, um sie als ideologische Konstruktionen zu markieren. Manchmal zeigt sich eben am Buchstaben, wessen Geist man folgt. Nach wie vor geäußerte Einwände bezüglich »unschönem Schriftbild« und »gestörtem Lesefluss« entlarven sich angesichts dieser Thematik als Versuche, den allzu bequemen Status quo mit vorgeschobenem stilistischem Dünkel zu legitimieren. Apropos »Stil«: Selbstverständlich weiß die Übersetzung auch, wann dieser zum Style wird. Und Hall hatte jede Menge Style.
Moral Panic!
Was während des Lesens tatsächlich immer wieder innehalten lässt, das ist die Fülle an Informationen und erhellenden Verknüpfungen, die Hall aufbietet. Was er z. B. auf wenigen Seiten über die Zusammenhänge von Zweitem Weltkrieg und Imperialismus sagt, über die Folgen für Entkolonisierung und das damit verbundene Ende des Empires, das gleicht einer kompakten Einführung zum Verständnis dieser von »Vergessen, Verleugnen und Gewalt« geprägten verhängnisvollen Verhältnisse.
So wie sich nach der formalen Abschaffung der Sklaverei (im Britischen Empire 1833) der Rassismus im 19. Jahrhundert mit »wissenschaftlichem Anspruch« verstärkt hatte, so bekam der Rassismus in der Phase der Entkolonisierung eine zutiefst anti-migrantische Prägung. Ab den späten 1940er-Jahren wurden die im »Mutterland«, in der »imperialen Metropole« eintreffenden Migrant*innen aus den ehemaligen und den noch bestehenden Kolonien »als das erkannt, was sie waren: Einwander*innen, die nicht auf begrenzte Zeit, sondern für immer nach Britannien kamen. Dies bedeutete die alarmierende Aussicht auf eine permanente Anwesenheit von Schwarzen im Land.« Die Reaktionen darauf, wie sie Hall – sprichwörtlich hautnah – miterleben musste, reproduzierten sich seit damals in einer perfiden Endlosschleife; in den letzten sechs Jahren besonders angestachelt gegen Schutzsuchende.
»Die Zeitungen waren voll mit Artikeln zur Migrations-›Krise‹ (…) Die Staatsmänner und Moralist*innen murmelten ihre ›Besorgnis‹. Die Boulevardpresse verbreitete eine populistische Version der Empörung (…) die ›moral panic‹ nahm ihren Lauf. Eine nicht aufzuhaltende Flutwelle Schwarzer Einwanderer steuert auf uns zu, prophezeiten die Kommentatoren. Der britische Lebensstil würde diesen Zustrom niemals überleben! Die Brit*innen würden zu einer ›khakifarbenen Mischlingsrasse‹ verkommen! (…) Wie um das Übel abzuwenden, tauchten nun Schilder mit der Aufschrift ›No Coloureds‹ in den Fenstern der Zimmervermieter auf. England verschanzte sich hinter seinen Netzgardinen.«
Sich dem Groove hingeben
Immer dann, wenn Hall auf Musik zu sprechen kommt, bekommt auch der Text eine beschwingte Leichtigkeit, einen anderen Groove. Denn freilich möchte man auch etwas über die musikalischen Vorlieben von jemandem erfahren, dessen Denken die Jugend-, Gegen- und Subkulturstudien so nachhaltig beeinflusst hat. Hall hatte schon 1958 der Linken empfohlen: »Watch these kids dance«; um besser verstehen zu können, wie sie ticken. Er wusste, wovon er sprach. »Schon als kleiner Junge war ich ein guter Tänzer und besaß ein Gefühl für Rhythmus. Aber die Art, wie mein Körper auf die coolen Beats des Modern Jazz reagierte, fühlte sich ganz anders an und begeisterte mich auf eine neue Art. ›Sich dem Groove hingeben‹ ist die einzige Art, wie ich das beschreiben kann.« Hall liebte Miles Davis und andere Jazzgrößen: »Damit habe ich nie aufgehört, und ich erlebe dabei immer wieder diese Augenblicke des Erwachens, die irgendwo tief in der Erfahrung des Hörens vergraben sind.«
Was Hall sonst noch hörte? U. a. »Marley natürlich, Jimmy Cliff und die Skatalites, dazu ein bisschen Hip-Hop, Drum-and-Bass, gelegentlich House (…) Auch hatte ich enorm Freude an klassischem Weißen Pop und Rock (obwohl ich nicht sicher bin, dass ich mich sonderlich damit identifiziert habe), darunter den Beatles, den Stones, The Clash.« Bis zum Ende seines Studiums spielte er selbst Piano in kleinen Jazzbands. Anfang der 1960er-Jahre hatten sich schließlich neue Wege aufgetan: »Ich hatte inzwischen die Idee aufgegeben, Schriftsteller zu werden, und auch über Musik wusste ich nicht genug und spielte nicht gut genug, um Musiker zu werden. Aus solchem ›Scheitern‹ werden Kritiker*innen und Theoretiker*innen gemacht!«
Der Welt offen begegnen
Das Buch endet, wie von Hall beabsichtigt, im Jahr 1964. Kurz vor seiner Hochzeit mit Catherine hatte er begonnen, am von Richard Hoggart frisch gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies an der Universität Birmingham zu arbeiten. Was sich dabei an kritischem kulturtheoretischem Denken entwickeln sollte, lässt sich u. a. in mittlerweile fünf Bänden seiner »Ausgewählten Schriften« bei Argument nachlesen.
Gramscis »Optimismus des Willens«, den Bill Schwarz in seinen Vorbemerkungen Hall attestiert, kann auch uns Mut machen. Nach wie vor sollte es der Linken darum gehen, »ein kollektives Denken und Fühlen zu erzeugen, das nicht gelähmt ist von den Verleugnungen der Vergangenheit, sondern neuen Generationen erlaubt, sich strategisch mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen, um eine wirkliche historische Kraft zu werden und der Welt offen zu begegnen.«
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