In den 1990er- und 2000er-Jahren führten den Autor dieser Zeilen mehrere Reisen in die Ukraine. Via KulturKontakt Austria lernte ich den Schriftsteller und Essayisten Jurko Prochasko kennen. Aus dieser Freundschaft ergab sich 2004 eine Recherchereise in die ehemals östlichsten Provinzen des K.u.K-Staates Österreich-Ungarn. Wir erforschten, was von den einst prächtigen Eisenbahnstationen und -strecken aus der Zeit der Habsburgischen Präsenz noch übriggeblieben war. Auch das karge Alltagsleben fand Eingang in den Fotoband »Galizien-Bukowina-Express – Eine Geschichte der Eisenbahn am Rande Europas«. Die Fotos von Magdalena Błaszczuk werden die Artikelserie zum tragischen Angriffskrieg in der Ukraine begleiten – ein kleines Dagegenhalten zur böswilligen Zerstörung von ukrainischen Kulturgütern durch das russische Militär. Die Texte im »Galizien-Bukowina-Express« sind von den Brüdern Taras und Jurko Prochasko.
Illusionen des neoliberalen Westens
Jurko Prochasko ist mittlerweile auch Psychoanalytiker, demaskiert Putin im Gespräch mit dem Deutschlandfunk exemplarisch und entblößt darüber hinaus die hilflos-naive Politik des neoliberal profitgetriebenen Westens vor dem brutalen Überfall auf die Ukraine. Dabei beschwört Putin mit seiner Wahnidee einer ethnisch-religiösen Reinheit (was noch nie ohne »Säuberungen«, Genozide, Vertreibungen vor sich ging) vor allem die Schrecken des 20. Jahrhunderts zwischen den beiden Kriegen. Das ist seine Art einer »Reconquista« als Gegenpol zum vermeintlichen »Reset« von dem in verschwörungsmythologischen Kreisen zwischen Eso-Nazitum und Neo-Faschismus so gerne geschwafelt wird. Und dies eint auch die Putin-Versteher*innen-Querfront im Westen, die der ehemalige KBG-Offizier schon lange als nützliche Idioten für sich instrumentalisiert hat.
Die Verkehrung von Fakten, d. h. z. B., dass Putin den Neonazismus in der Ukraine bekämpfe, ist krude und perfid – der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj stammt aus einer russischsprachigen jüdischen Familie, von der drei Mitglieder während der Shoah ermordet wurden – und kann fast nur noch psychopathologisch erklärt werden, auch wenn sich nach Putins Logik das sowjetische Narrativ vom Sieg gegen Nazi-Deutschland dahinter verbirgt. Psychopathologisch deshalb, weil anzunehmen ist, dass Putin wirklich daran glaubt, mittels faschistischer Söldnertruppen (die Gruppe Wagner bzw. tschetschenische Kämpfer) den »Neonazismus« in der Ukraine bekämpfen zu müssen. Aktuelle Meldungen, nach denen sich Putin quasi nur noch von seinen (letzten) Treuen umgeben in einem Bunker versteckt aufhält, verweisen ja weniger auf ein baldiges Ende, denn auf eine quasi luftdichte Echokammer, in der sich Paranoia und Irrationalismus permanent gegenseitig hochschaukeln.
Gruppe Wagner und die Impotenz des Aggressors
Putins derbe Sprache ist mit sexuellen Gewaltphantasien konnotiert. Nach Slavoj Žižek signalisiert aber die »Vergewaltigung der Ukraine« die eigentliche Impotenz des Aggressors. In einem Text für den »Theory Reader« liefert der slowenische Philosoph eine drastische psychotherapeutische Sicht auf den stets vom Putin-Regime geschürten Konflikt. Die vom russischen Oligarchen (und Hitler-Fan) Jewgeni Prigoschin gegründete und finanzierte Gruppe Wagner (Anspielung auf Richard Wagner) führt verdeckte Militäroperationen durch und half damit Russland, sich in Teilen Syriens (Fassbomben auf Spitäler) und Libyens Einflusszonen zu schaffen sowie in Zentralafrika Frankreich gar komplett auszubooten.
Von Putins FSB besteht eine enge Verbindung zum Militärgeheimdienst GRU, der das Aufpoppen der dunkelgrün gewandeten Paramilitärs auf der Krim 2014 orchestrierte. Wo abgestritten werden sollte, dass Russland dahintersteckt, operierten stets Söldner der Wagner Group, auch bei der Penetration der Separatistengebiete im Donbass. Ob der tragischen »Vergewaltigung der Ukraine« empfiehlt Žižek eine ebenso drastische Gegenreaktion: Einen Kastrationseingriff beim Staat Russland. Das Regime sollte ignoriert und marginalsiert werden, damit die böse Saat nie mehr aufgehen möge.
Entartung und Schwulenhass
Bei einer Facebook-Diskussion mit Queer-Aktivist*innen aus Deutschland wurde klar herausgearbeitet, dass die in Putins Diktion feindlichen Ukrainer stets als »Terroristen«, »Neonazis«, »Drogenabhängige« gebrandmarkt werden. Homosexuelle werden zwar nicht direkt erwähnt, gehören aber sicherlich dazu, wie aus dem fascho-klerikalen Schulterschluss von Putins Entourage mit orthodoxen geistlichen Machthabern bekannt. Die Message, das Framing sind jedenfalls ist klar: von Globalisten bezahlte, pädophile, drogenabhängige Terroristen-Neonazis in Frauenkleidern …
Oder wie es schon mal in den Kommentarspalten der »Kronen Zeitung« formuliert wird: »Ein Kampf um die Weltherrschaft zwischen den Mächten hinter Biden/Johnson auf einer Seite und Putin auf der anderen Seite …Wer sind diese Mächte?« Die Kriegsursachen und die Schwulenfeindlichkeit autokratischer Machthaber in Russland, der Türkei, China usw. können in einem »Welt«-Artikel von Deniz Yücel, dem Präsidenten des PEN-Zentrums Deutschland, der dank deutscher Regierungsintervention 2018 nach einem Jahr Haft aus den Fängen des Erdogan-Regimes befreit werden konnte, nachgelesen werden. Wiederum geht es um Aussagen von Putin, die zu wenig beachtet wurden.
Fehlende Aufarbeitung der gewalttätigen Vergangenheit
Ein gewalttätiges Regime, das die Aufarbeitung der Vergangenheit der schandtatengetränkten Geschichte Russlands nicht zulässt, müsste grundsätzlich wie ein Paria behandelt werden. Das am 28. Dezember 2021 per Gesetz verordnete Verbot der NGO Memorial, das den Opfern des Stalinismus bis zu den Zivilisten und getöteten Soldaten in der Ära Putin Würde zurückgab, war ein allerletztes Warnzeichen, dem westlichen Regierungen mit weitaus größerem Protest entgegentreten hätten müssen. Wer seine Geschichte nicht aufarbeitet, ist unfähig, demokratische Verhältnisse zuzulassen, und wird weiterhin die Geschichte mit Blut schreiben. Es ist verbürgt, dass Putin zu Historiker*innen meinte, dass sie die Geschichtsschreibung sein lassen sollen, weil das der Geheimdienst besser kann. Handel mit Diktatoren korrumpiert und vernachlässigt Wachsamkeit, die auch nach innen nötig ist. Die Verlierer: Humanität und Umwelt. Mehr dazu im nächsten Ukraine-Text.