Aber man kann nicht alles haben. Ohnehin ist es sensationell, dass es die Viennale DVD-Box überhaupt gibt, denn die in kleiner Auflage erscheinenden Filme spielen kaum die Herstellungskosten ein, wie die Presseabteilung verrät. Es ist ein echter Liebesdienst an jene Viennale-Fans, die auch zu Hause ihrer Filmleidenschaft nachgehen wollen.
Verwirrt und gay am See
Zur Auswahl von »L’inconnu du Lac« (Der Fremde vom See) von Alain Guiraudie ist zunächst anzumerken, dass bereits die 2012er Viennale Box einen Film des Franzosen Guiraudie präsentierte. Angesichts unzähliger hochwertiger Filme und Regisseure, die man in diese Heimkinoviennale aufnehmen könnte, ist diese Bevorzugung zu tadeln, andererseits: Wer »Le Roi de L’évasion« (Der König des Entkommens, 2009) gesehen hat, freut sich natürlich unbedingt auf ein Wiedersehen mit Guiraudie. Der Vorgängerfilm war eine herrlich unkonventionelle Komödie fernab jeder Bobo-Ästhetik, ein derbes, grobianisches, respektlos-anarchisches Meisterstück. »L’inconnu du Lac« (F 2013) ist demgegenüber wesentlich zurückgenommener, als hätte sich ein Film von Eric Rohmer (z. B. Pauline am Strand) über den Fluchtkönig gestülpt, gewürzt allerdings mit einem Hauch Hitchcock. Wieder geht es um eine Geschichte aus der Provinz, die dieses Mal allerdings ausschließlich in der Schwulenszene spielt. Wir befinden uns in der Cruisingzone rund um einen See, es ist Sommer, der Held des Filmes, Franck, schwankt zwischen zwei Männern, einem kumpelhaften Badegast und den geheimnisvollen Michel, der bald sein Lover wird, obwohl Franck allen Grund hat, sich vor Michel zu fürchten. Die darauf folgenden Sexszenen sind explizit bis zum Anschlag, der Tonfall des Filmes bleibt trotzdem sanft, abwägend, beinahe hingetupft, was auch perfekt zur Geschichte insgesamt passt. An der absolut stimmigen Behandlung des Themas verrät sich hier der Meister, der dieses Mal weniger anarchisch, dafür aber wunderbar im Einklang mit der subtilen französischen Kinotradition steht.
Die Hölle der Normalität
Filmische Stringenz zeichnet auch den zweiten Beitrag aus. Alles an »The Color Wheel« (USA 2011) von Alex Ross Perry schreit »Anti«. Anti-Amerika, Anti-Hollywood, Anti-Traumindustrie. Das beginnt beim extrem grobkörnigen Schwarz-Weiß-Filmmaterial, dessen Bildpunkte bei Nahaufnahmen zu tanzen beginnen (was jeder gängigen Filmästhetik hübsch zuwider läuft), das geht weiter bei den abgefilmten Städten und Landschaften, die so gar kein typisch amerikanisches Flair verbreiten wollen, es setzt sich fort bei den beiden grandiosen HauptdarstellerInnen, die andauernd Sätze verschlucken, sich verplappern, am Rande der Peinlichkeit agieren, ihre beiden Wannabe-Charaktere also perfekt verkörpern – allerdings nicht im Sinne einer perfekten, aalglatten Schauspielkunst à la Hollywood, sondern eher als wohlkalkulierte Authentizität. Schließlich und endlich sind es aber die Geschichte und die Dialoge zwischen dem Geschwisterpaar, die dieses riesige, laute, hingerotzte »Anti« schreien. Denn J. R. (dargestellt von Carlen Altmann, die auch am Drehbuch mitschrieb) und Colin (Alex Ross Perry, zugleich der Regisseur) sind am Beginn des Films das absolute Antiheldenpärchen, zwei authentische Geschwister bis in die Knochen, keifend, feixend, um die Wette streitend, in einem Sprechtempo, das »His girl friday« von Howard Hawks (USA, 1940) alle Ehre macht. Dabei wird ein sarkastischer Humor bedient, der seinesgleichen sucht. »Oh, Gott, ich sehe aus als hätte ich eine Abtreibung auf meinem Shirt«, sagt J. R. nachdem sie sich mit Essen angepatzt hat. Und muss sich umgekehrt von ihrem Bruder anhören, dass sie zur Beerdigung ihrer Tante nicht eingeladen wurde, weil die Eltern von ihr nicht bei der Beerdigung runtergezogen werden wollten. »I’m a downer at the funeral, really?«, wie es im Original heißt. Kann man etwas Hässlicheres über einen Menschen sagen? Natürlich stellt sich schließlich heraus, dass dieser Sarkasmus einen triftigen Grund hat. Die sarkastische, stutenbissige Hässlichkeit von J. R. und Colin ist nichts im Vergleich zur Hässlichkeit und Kleinlichkeit des bigotten, gut gekleideten, stets karriereorientierten Amerikas. Die Hölle, das sind (frei nach Sartre) die Anderen, die »ordinary people«, bei denen immer alles hübsch artig ist. »The Color Wheel« ist auf seine Weise ein definitives Outcast-Movie, eine Komödie und zugleich die Verweigerung einer Komödie.
Leicht wie Blei
Der dritte Film stammt von der jungen chilenischen Regisseurin Dominga Sotomayor (innerhalb der bislang 13 Viennale-DVDs erst die zweite Regisseurin). »De Jueves A Domingo« (Donnerstag bis Sonntag) erzählt von einem Urlaub einer vierköpfigen Familie, der quer durch Chile führt, die meiste Zeit im Auto. Sotomayor filmt fast ausschließlich in der Halbtotalen, dadurch wird die Kamera zum fünften Familienmitglied, sie ist stets nahe mit dabei, wobei es zugleich der Blickwinkel der elf- oder zwölfjährigen Tochter ist, den die Kamera und damit die Regisseurin einnimmt. Wir sehen die schwierige Beziehung zwischen Mutter und Vater, die unausgesprochene Krise einer Familie, die aus eher kargen Verhältnisse stammt, was zugleich ein Subthema des Films ist. Als es in der Mitte des Films zum Streit kommt, sitzen beide Kinder auf dem Dach, sind außer Hörweite. Und auch wir hören nichts, wir sehen wie die Kinder nur das Fragmentarische der Situation. So wird es den ganzen Film über bleiben. Nie schauen wir über die Landschaft hinweg, nie überschauen wir die ganze Geschichte, nie bewegen wir uns von dieser Familie weg, die sich selbst nicht von sich weg bewegt, obwohl sie stets unterwegs ist. Erst am Ende des Films erlaubt uns die Regisseurin einen Blick in die Ferne, doch die Zukunft bleibt ungewiss, aber vermutlich weiterhin karg. Dennoch waren wir auf unspektakuläre Weise ganz nahe dran. Von einem »wunderbaren, schlafwandlerischen Film« ist im Pressetext die Rede, aber das ist eher ein Missverständnis. »Spröde und fragmentarisch« trifft es viel eher, aber gerade diese Zurückhaltung erzeugt die bleibende Wirkung des Films, die näher an einer Dokumentation als an einem Spielfilm ist. Womöglich war das gar nicht so beabsichtigt von der Regisseurin, vielleicht hatte sie die Themen des Films viel deutlicher aussprechen wollen, vielleicht deutet die letzte Szene auf eine Auflösung hin, die sie gerne gehabt hätte, aber nicht zu filmen in der Lage war. Womöglich. Schöner ist die Deutung, dass Dominga Sotomayor ganz genau wusste, warum sie diese Geschichte nur als Skizze, nur als unausgesprochenes, unvollendetes Drama inszeniert. Vielleicht ging es ihr genau darum, alles nur anzudeuten, inklusive dieser Enge des Blicks, die der Film erzeugt, die den Betrachter zum Vervollständigen geradezu herausfordert. In diesem Fall darf man ganz einfach den Hut vor der offenkundigen Begabung der jungen Chilenin ziehen.
Unter dem Strich
Eine wirklich befriedigende Auswahl also, bei der auffällt, dass sich die Protagonisten stets eher am Rand der Gesellschaft bewegen und der Blickwinkel immer stark auf das engere soziale Umfeld (die Familie, die Interessensgemeinschaft) begrenzt bleibt. Und es sind stets Geschichten, die nicht vordergründig eine politische Dimension haben, sondern wo der individuelle Blick, das individuelle Glück im Vordergrund steht. Aber dieses Glück ist stets bedroht, im Grunde schon verloren. Ob dieser Romantizismus Absicht war, ist zu bezweifeln, es ist trotzdem interessant, wie sehr sich die Stimmungslagen im mainstreamfernen Kino hier ähneln, ganz egal ob in Frankreich, Amerika oder Chile. In jedem Fall aber: Kaufen & Anschauen!
Viennale DVD-Box
Die Box beinhaltet neben den 3 Filmen einige attraktive Goodies: ein Stück eines 35mm-Filmstreifens von einem Viennale-Trailer, ein Viennale-Schlüsselband, einen Viennale-Pin sowie einen Falter-Bleistift.
€ 29,90
Erhältlich hier