Globale Kunst, Gesamtkunstwerk oder dritte Dimension? Das Duo t.A.T.u. hat in der Pop-Welt jedenfalls eingeschlagen. Verstehen Sie bitte »Pop« im Sinne Andy Warhols. Hier ist ein Team an der Arbeit, man möchte fast von einer Armee sprechen (der Roten natürlich), beobachtet man, wie t.A.T.u. mit Bildern und Liedern zur Invasion in unsere Zimmer ansetzen. Ihr erstes Video wird noch jahrelang gesehen und studiert werden, in meinen Augen ist es Kino, den Filmen von Stanley Kubrick, Sergej Eisenstein und Takeshi »Beat« Kitano ebenbürtig. Jede Einstellung, jeder Schnitt, jedes Licht hat Sinn, und sei es auch nur, um das ganze Lolitasyndrom neu zu erfinden und auf sehr komplexe Weise zu hinterfragen. Sie werden faktisch gezwungen, sich t.A.T.u. anzusehen und dabei sich selbst zu sehen. Die beiden sind auch nicht die Opfer, sonder Sie der Käufer oder die Käuferin. Sie kaufen zwar »nur ein Bild«, das vordergründig vermarktet, vom normalen Veralten provokant abweichend, eine Fälschung ist, aber am Schluss steht dennoch fest: Sie sind immer schon der Käufer oder die Käuferin gewesen, und nicht die beiden zwei unanständige Mädel. Sie sehen aus wie zwei Schülerinnen, die im Regen stehen, aber Sie wissen, dass die Uniformen falsch sind (die könnten englisch oder japanisch sein, und dabei kommen die zwei doch aus Russland), sie sind auch keine willigen Teeny-Sexobjekte, und dieser endlose Regen, der ihre Kleider durchnässt, ist genau die Menge Flüssigkeit, nach der Sie verlangt haben (ah, wenn Sie nur kaufen!). Am Ende küssen sie sich, aber auch das ist nur ein Teil der Intimsphäre, in die sie eindringen wollten. In diesem Clip ist nichts echt außer dem schmutzigen kapitalistischen Klassenkampf, der noch im hintersten Winkel wiederbelebt wird. Stellen Sie sich Ihren innersten, verborgensten Konflikten in nur drei Minuten. Als »Grease« in die Kinos kam, da wussten Sie, dass Travolta und Newton-John das Ende der erfolgversprechenden Jahre von »Saturday Night Fever« und »Rocky« einläuteten. Ronald Reagan ließ nicht lange auf sich warten und übernahm das Ruder, und auch t.A.T.u. könnten einen Wendepunkt bedeuten. Die Medien zeigen Flagge: Zeit für etwas Neues. Ich bräuchte noch eine Spalte, um diese Musik zu beschreiben, Sie können aber auch ganz einfach losmarschieren und sich die CD kaufen.
t.A.T.u.
200 km/h in the Wrong Lane
Universal
Text
Friederike Kulcsar (Übersetzung), Noël Akchoté
Veröffentlichung
14.06.2003
Schlagwörter
54
American Recordings/Universal
t.A.T.u.
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