Es gibt unterschiedlichste Effekte, die eine CD (nicht ein paar Musikstücke aneinandergereiht, sondern eine ganze CD, verstanden als »Werk«) auslösen kann: von der verzweifelten Suche nach dem einen guten Song über die komplette Ratlosigkeit bis hin zur Verzückung oder ?berwältigung. Alles möglich, insbesondere im Pop. Einen der schönsten Effekte würde ich the three day addiction nennen. Der geht so: Schon beim ersten Durchhören machen sich eingängige Melodien und gefällige Harmonien bemerkbar, trotzdem entzieht sich das Werk irgendwie. Man kann es noch nicht nachpfeifen, es hat sich noch nicht festgesetzt (und wird sich auch mitunter nur in Fragmenten festsetzen). Trotzdem ist diese Musik da, trotzdem kommt sie an, hängt sie irgendwo tief im Nacken. Also hört man sich die Sache noch mal an. Die signifikanten Harmonien drängen sich noch ein Stück weiter vor, irgendwoher kennt man das doch? Ja, von den letzten Wilco-CDs natürlich. Auch eine andere Band fällt dazu ein, zwischendurch fängt man zu schmunzeln an, denkt sich »The Whole Love« als Bauernhochzeit zwischen Radiohead und REM, aber trotzdem, man kann sich einfach nicht helfen, man muss sich das Teil ein drittes Mal durchhören. Entdeckt wieder Nuancen, beurteilt den einen Song besser, den anderen schlechter, ertappt sich, wie man immer wieder an bestimmten Stellen aufhorcht, wie man beim Titelsong der CD schon fast versucht ist, in die Knie zu gehen und sich zu bekreuzigen: Gott, was für ein schönes Stück Musik! Bei anderen Stücken wieder philosophiert man darüber, dass Belanglosigkeit und Gefälligkeit doch enge Verwandte sind. Schließlich stehen wir knietief im Folkpop, und der ist ja ein Meer der Beliebigkeit geworden. Jede und jeder, die oder der sich halbherzig zur Musik berufen fühlt, macht heutzutage entweder Folkpop ?? oder spielt mit dem Laptop herum. Und gerade Bands wie Wilco haben nachdrücklich dafür gesorgt, dass dem so ist und bleibt. Eine Band, deren CDs in fast ununterbrochener Reihenfolge vom deutschen Rolling Stone zu CDs des Jahres gekürt wurden, eine Band, deren Fans auch noch Jahre nach der Ersterscheinung hymnische Reviews auf Amazon (sic!) schreiben ?? muss man so eine Band nicht doch irgendwie hassen? Irgendwie schon, geht aber schwer. Denn die Sache endet natürlich damit, dass man »The Whole Love« ein ganzes Wochenende ununterbrochen gehört hat. Immer und immer wieder. Soviel gute Musik läge herum, aber nein, es ist Wilco. Keine Notwendigkeit, das mit irgendwelchen musikalischen Fachbegriffen zu fixieren, es ist einfach großartig funktionierende Popmusik, sperrig und trotzdem atmosphärisch, irregeleitet und trotzdem integer, kleinlich und trotzdem großzügig zugleich. Neidlos muss man das anerkennen. Manche Musik ist eben mehr Musik als andere Musik. Chapeau, Mr. Tweedy.
(PS: Ich schwöre, ich werde nie ein Interview mit ihnen machen, um ihnen saublöde Fragen über den wahren Auftrag von Popmusik zu stellen.)