Ich erinnere mich, dass jede Passage in Joe Brainards ebenso wunderbarem wie außergewöhnlichem Erinnerungsband »Ich erinnere mich« mit ebendieser Formulierung beginnt. Ich erinnere mich, dass er nur dann davon schreibt, sich nicht an etwas zu erinnern, wenn er zuvor gesagt hat, woran er sich erinnert. Ich erinnere mich nicht mehr, ob mir das schon beim ersten Lesedurchgang aufgefallen ist. Ich erinnere mich, immer wieder von dem Band gelesen zu haben und ihn dann endlich selbst immer wieder – als hätte ich ihn noch nie zuvor gelesen – neu gelesen zu haben. Ich erinnere mich, dass Paul Auster in seinem wunderbaren Vorwort, das auch in der deutschen Ausgabe abgedruckt ist, Siri Hustvedt zitiert, die in Bezug auf Brainards Buch diesen so vielfältigen Künstler in einem ihrer Texte als »Gedächtnismaschine« bezeichnet. Ich erinnere mich, dass mir das nicht nur gut gefallen hat, sondern mir auch klarmachte, dass ich keinen besseren Begriff für Brainards Leistung, ja für Brainard selbst, würde finden können. Ich erinnere mich, dass Brainard oft von Briefen schreibt, einer mir sehr vertrauten und werten Textform. Ich erinnere mich, dass ich versucht war, sein Buch als langen Brief zu verstehen. Ich erinnere mich, wie mir eine Briefschreiberin von ihrer Auster- und Hustvedt-Lektüre berichtete. Ich erinnere mich, dass sie nie auf Brainard zu sprechen kam, obwohl ihr das Buch wohl untergekommen sein müsste.
Ich erinnere mich, dass ich Brainards Buch, nachdem ich es erstmals gelesen hatte, für mich behalten wollte, als könnte ich es wie einen direkt an mich gerichteten Textstrom besitzen. Ich erinnere mich, dass mir das weder mit den unleserlichen Zeilen der erwähnten Briefschreiberin noch mit Brainards Buch wirklich gelingen wollte, wenngleich ich nur Brainards Buch tatsächlich und uneingeschränkt empfehlen kann. Ich erinnere mich, dass sich Joe Brainard in seinem Buch nicht rächt, nicht an einer einzigen Stelle. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, ob ich in meiner angedachten Rezension des Buches die gleiche oder zumindest annähernd gleiche Größe würde beweisen können. Ich erinnere mich, dass Brainard manchen Sätzen eine in Klammern nachgestellte Bemerkung hintanstellt, wie um die vorangegangene Passage noch zu betonen. (Dabei verwendet er nicht selten Satzzeichen, etwas, das an dieser Stelle unterlassen werden soll.) Ich erinnere mich, die nun vorliegende Ausgabe von Brainards Buch lange mit mir herumgeschleppt und bei mir passend erscheinenden Gelegenheiten und aus guten Gründen wie einen schön gestalteten Schutzschild vor mir aufgeschlagen, ja, aufgespannt zu haben. Ich erinnere mich, dass ich das Buch aus besseren Gründen meist schnell wieder wegpackte und in meiner Tasche verstaute, damit es keinen Schaden nehmen und ich die mir zustehenden Prügel kassieren konnte. Ich erinnere mich, dass ich mir beim Schreiben des Textes sehr deutlich vornahm, mich zu verstellen. Ich erinnere mich, dass ich Joe Brainards wunderbares Buch vielen Leuten empfehlen will.
Joe Brainard: »Ich erinnere mich«, Zürich: Walde + Graf 2011, 208 Seiten, EUR 15,40