Zunächst fällt auf, dass diese Zusammenstellung tatsächlich ganz gut zu einem in Üsterreich stattfindendem Filmfestival passt. Alle Filme, egal ob dokumentarisch, halbdokumentarisch oder erzählend, zeichnen sich durch einen – zumindest auf den ersten Blick – sperrig-spröden Stil aus. Der eben auch das österreichische Kino oft genug prägt. Dahinter verbirgt sich offenbar die ?berzeugung, dass jede Art von filmischer Virtuosität sich parasitär zu den gezeigten Bildern verhält, dass jeder Drive und jede Stilisierung die Charaktere, die Geschichte, die inhaltlichen Bezüge gewissermaßen wegätzt. Dabei zeigte erst unlängst Álex de la Iglesia mit seinem grandiosen »Mad Circus«, wie effektiv man den zeitgenössisch-gesellschaftlichen Wahnsinn in eine alptraumhafte Symbiose von Form und Inhalt gießen kann. Aber es muss nicht immer überbordende Opulenz sein, das Glück liegt oft auch im Schlichten*.
»Capturing the Friedmans«
Sperrig sind also zunächst alle Filme in dieser Box, aber hinter jeder einzelnen Sperrigkeit lauert eine andere sehens- und entdeckenswerte Qualität. »Capturing the Friedmans« von Andrew Jarecki ist der älteste Film in der Viennale-Box, eine HBO-Dokumentation von 2003, die in den letzten Jahren regelmäßig im Sommerkinoprogramm des Wiener Stadtkinos zu sehen war. Mit gutem Grund. Jarecki dokumentiert das Leben der Familie Friedman, die in einem kleinen Ort Namens Great Neck auf Long Island lebt. Eines Tages erhält der Familienvater eine kinderpornografische Zusendung, wenig später steht die Polizei vor der Tür. Das Familienleben beginnt auseinander zu brechen, je mehr Gerüchte die mutmaßliche Wahrheit zukleistern. Das Besondere an »Capturing the Friedmans« ist einerseits, dass die Friedmans ihr eigenes Familienleben nahezu exzessiv auf Super8 Home Movies festgehalten haben – und dies auch während der Ermittlungen wegen Kinderpornographie und der entsprechenden Reaktionen in der Nachbarschaft weiterhin taten. Jarecki präsentiert beides, die Selbstdokumentation der Friedmans und seine dokumentarische Sicht der Dinge – ohne jedoch zu werten. Was wir sehen ist eine exzentrische Familie, die uns nicht sympathisch sein muss, aber eben doch vor allem eine Familie ist. Geradezu fulminant darum die Hilflosigkeit, die der Film beim Publikum auslöst. Man würde so gerne verdammen oder freisprechen, aber der Film erlaubt beides nicht.
»Half Nelson«
In »Half Nelson« von Ryan Fleck (USA 2006) treffen wir auf den damals noch in den Startlöchern stehenden Ryan Gosling (er zählt spätestens seit »Drive« und »The Ides of March« zum sexy Establishment Hollywoods), der sich als Lehrer Dan Dunne an einem Gymnasium in Brooklyn verdingt, zugleich aber mit allerlei Ambitionen zum Thema Gleichberechtigung und einer Schwäche für Drogen ausgestattet ist. Ihm gegenüber stellen Regisseur Ryan Fleck (und Co-Autorin Anna Boden) die farbige Schülerin Drey (Shareeka Epps), im Film gerade mal 13 Jahre jung. Daraus entsteht eine unmögliche Liebesgeschichte, bei der die Rollenverteilung gehörig durcheinander gewirbelt wird. Zugleich prallen in »Half Nelson« zwei Outsider aus der weißen und schwarzen Mittelschicht aufeinander. Der Film versteht sich explizit als Statement gegen eine soziale Ghettoisierung, die selbst in New York nach wie vor Alltag ist. Fleck und Boden finden dafür einen entspannten Zugang, so zerstreut und verwackelt (Handkamera und Tiefenschärfespielereien) wie der Titelheld oder die (leider nur spärlich eingesetzte) Filmmusik von Broken Social Scene. Umso großartiger die dramaturgische Zuspitzung, die ähnlich wie bei »Capturing the friedmans« den Ball zurück ans Publikum spielt und aus »Half Nelson« ein bitteres Sozialmärchen macht.
»Aquele querido mês de Agosto«
»Aquele querido mês de Agosto« von Miguel Gomes (Portual, Frankreich 2008) ist der vom filmischen Zugang her verspielteste Film der Box, so spröde die Umsetzung anfangs erscheint. Der Film spielt im kleinen portugiesischen Provinzkaff Arganil und man würde nach den ersten paar Szenen, etwa nachdem ein Fuchs in einen Hühnerkäfig gestürmt ist oder eine Musikkapelle am Dorfplatz ihre Schnulzen zum Besten gegeben hat, eigentlich schon an eine drittklassige Doku denken, wenn nicht plötzlich der Regisseur selbst auftaucht und mit seinem Produzent diskutiert, warum hier keine Handlung zu sehen ist: »Da ist der Plot«, sagt der Produzent, »Wo sind die Schauspieler dafür?« Der Regisseur antwortet: »Ich will Menschen, nicht Schauspieler!« Und so beginnt ein semidokumentarisches Spiel, bei dem die halbe Ortschaft vorgestellt wird, bis schließlich allmählich doch eine Geschichte anhebt, eine Liebesgeschichte um die junge Schlagersängerin Tânia, um die Vater und Cousin gleichermaßen buhlen. Großartig, wie die einzelnen Charaktere, die in der ersten Stunde des Film quasi dokumentarisch vorgestellt wurden, dann als Teil der Handlung zurückkehren. »Was sollen diese Szenen?«, fragt der Produzent, und Gomes antwortet: »Das sind die Extras«. Tatsächlich funktioniert »Unser geliebter Monat August«, so der übersetzte Filmtitel, wie ein Spielfilm, bei dem zunächst die dokumentarischen Extras gezeigt werden. Aber eben verwoben zu einem filmischen Ganzen, das am Ende selbstverständlich mit einer Reflexion über Macht und Ohnmacht des Filmemachens endet.
»Le Roi de l’évasion«
»Le Roi de l’évasion« von Alain Guiraudie (Frankreich 2009) ist eine Art Betriebsunfall zwischen einer Provinzkomödie, einer homoerotischen Studie und einem anarchisch-surrealen Schurkenstück. Im Mittelpunkt der Handlung steht der 43-jährige Armand, ein schwuler Junggeselle, korpulent und alles andere als ein Revoluzzer. Als er die 16-jährige Curly vor einer Vergewaltigung rettet, wird Armand plötzlich zu ihrem Schwarm – und eine naturalistisch-grobianische amour fou hebt an, samt wilder Jagd durch die französische Provinz, was an sich schon irre genug wäre. Aber da gibt es noch die schwule Dorfcommunity, die heimlich eine Art Viagrapflanze züchtet, die sogenannten Bumswurzel, woraus ein zweiter, noch absurderer Plot resultiert. Dabei gibt sich der Film auf seine ebenso beschauliche, wie lässige Art hervorragend respektlos – und funktioniert dabei wie Screwballcomedy im besten Sinne. Hier treffen sich Sprödheit, französischer Witz und eine Art unisexueller Anarchismus auf großartigste Weise. Man darf sogar sagen: Solange das Kino solche Filme hervorbringt, ist das Abendland nicht verloren.
»El Sicario, Room 164«
Last, but not least, »El Sicario, Room 164« von Gianfranco Rosi (USA/Frankreich 2010). Wir kehren zurück zum Dokumentarfilmgenre, hier eingedampft auf einen Mann, ein Hotelzimmer, eine Lebensbeichte. Aber natürlich nicht irgendeine Beichte, sondern es geht um einen Auftragskiller des mexikanischen Drogenkartells, der sich selbst El Sicario nennt. Was dieses Dokumentarstück auch in filmischer Hinsicht bemerkenswert macht, ist zunächst der dramaturgische Einfall, den Protagonisten die eigenen Ausführungen mittels Notizblock und simpelsten Skizzen bebildern zu lassen. So entsteht neben der mündlichen Erzählung ein fast kindlicher Zeichentrickfilm, der das Erzählte auf eine unerwartete visuelle Ebene hebt. Der zweite Clou ist, dass sich die Lebensbeichte nicht nur auf das Töten beschränkt, sondern auch die Redemption erfasst. Selten wurde in einem Film sichtbarer, wie sehr der christliche Glaube an das Konzept der Schuld gebunden ist. Und wer könnte mehr nach Erlösung hungern als ein hundertfacher Mörder?
Unterm Strich
Unter Strich ist man mit dieser Box mehr als bestens bedient, wenn es darum geht, einen Einblick in jene Form des internationalen Autorenkinos zu bekommen, die eher dem dokumentarischen als dem fiktiven, eher dem bebildernden als dem filmischen Zugang zugeneigt ist. Wobei »Le Roi de l’évasion« von Alain Guiraudie gewissermaßen der Hecht in diesem Karpfenteich ist. Vor diesem Hintergrund ist die Viennale DVD-Box eine wirklich sehenswerte, im Grunde fast zu schmale Werkschau geworden. Ein Aspekt ist allerdings auffällig, es fällt einem glatt Jean-Luc Godard dazu ein, der einmal sinngemäß meinte, dass es im Kino ja doch nur darum gehe, schöne weiße Frauen zu zeigen. Das gilt mit Abstrichen auch hier: In »Capturing the Friedmans« geht es um Kindesmissbrauch, in »Half Nelson« verliebt sich der Protagonist in eine 13jährige Schülerin, in »Aquele querido mês de Agosto« wird die hübsche, blutjunge Cousine am Ende des Films entjungfert, der 43jährige Armand in »Le Roi de l’évasion« bumst fröhlich mit der 16-jährigen Curly, nur in »El Sicario, Room 164« geht es nicht vordergründig darum, eine Frau zu bespringen. Dafür wird von unzähligen Morden und Vergewaltigungen junger Frauen erzählt. So gesehen ist alles beim Alten geblieben, auch das Independent-Kino feiert immer noch den männlichen Blick – nur eben fernab klassischer Stereotypen und Klischees.
Die Viennale DVD Box ist im gut sortierten Fachhandel bzw. online direkt bei Hoanzl erhältlich.
*Zur angesprochenen Lustfeindlichkeit des österreichischen Films sei übrigens dieser Artikel von Stefan Grissemann im Profil« empfohlen, denn hier geht es natürlich auch um förderungspolitische Bedingungen.