Ein Album über die Liebe sei das elfte Tocotronic-Album. Sagt die Band. Und sagen alle anderen – oft nur zu gern, um die Band damit endlich in ihre rein ästhetizistische Weltanschauung einzugliedern. Es stimmt auch. Aber nicht nur. Denn das offiziell namenlose, inoffiziell »rotes« genannte Album handelt zwar in jedem Song mehr oder weniger explizit von der Liebe. Aber auch mehr oder weniger explizit von anderen roten Sachen: von Solidarität und Widerstand, der Unhaltbarkeit kapitalistischen Wirtschaftens und rassistischer Politik, wortwörtlicher und metaphorischer Entgrenzung. Oder wovon reden Tocotronic, wenn sie in »Ich öffne mich« singen: »Ich öffne mich / Öffne die Grenzen für dich«. Wenn sie in »Rebel Boy« den alten Punk-Schlachtruf »No Future« auf die Logik des Spätkapitalismus anwenden mit den Zeilen »Ich werde nicht gebraucht / Die Zukunft gibt es nicht«. Wenn sie in »Solidarität« säuseln »Ich weiß, dass ihr ein Schutzschild braucht / Denn eure Ängste kenn ich auch«.
Sie reden natürlich von all dem, was immer verwirrtere Menschen und eine immer kältere Republik im immer unverblümter auftretenden Neoliberalismus so umtreibt: Rassismus gegenüber Flüchtlingen, Kampagnen gegen einen Bahnstreik, Pegida-Demonstranten, Amazon-Billiglöhner. Das am Tag der Arbeit erschienene Album bedeutet also mitnichten eine Abkehr vom Diskursrock. Genauso wenig ist es andererseits der erste Ausflug von Tocotronic in die Gefilde der Liebe – man denke an alte Schluffi-Lovesongs wie »Ich möchte irgendetwas für dich sein« oder jüngere Dandy-Schmachtfetzen wie »Der achte Ozean«. Nein, die Band beherrscht die Kunst des alle Peinlichkeit wagenden Liebes- liedes schon länger. Und auch diesmal schafft sie es, nicht in blöden Kitsch abzurutschen. Weil ihre Songs halb camp, halb schelmischer Witz sind, und gleichzeitig voller Ernst. Auch musikalisch ist das erneut von Moses Schneider produzierte Album nicht weit weg von den letzten drei Alben.
Allerdings ist der Sound – sehr angenehm – weniger rockig und bombastisch. Auf die Grundierung ihres 0815-Indierock tragen Tocotronic diesmal Joy Division-Bässe und Eighties-Synthiewände auf, es gibt Handclaps, eine Steel-Gitarre, eine Kalimba, ein Streicher-Stück und gleich mehrere Akustik- songs. All das ergibt so etwas wie die weit und breit einzige deutschsprachige Version des britischen Wimp-Pop der 1980er. Ganz in dessen Tradition vermeiden Tocotronic auch hier jeden Rockismus. Ebenfalls in Wimp-Tradition tapsen sie bei ihren Liebesliedern weder in die Sexismus-, noch in die Heteronormativitätsfalle. Mit dem »roten Album« hat die Band ein schmachtendes, schwärmerisches und verschwenderisches Manifest gegen den Neoliberalismus geschaffen. Nicht Härte und Trotz lautet Tocotronics aktuelle Antwort auf diesen, sondern eben: Liebe, Empathie, Solidarität. Und in dem Sinn ist es dann: ein Diskursrock-Album über die Liebe.