Das Tanzen ist im österreichischen Spielfilm meist Ausdruck vollkommenen Glücks. Zum Markenzeichen wurde es im ›feel bad‹ Kino von Barbara Albert (»Sonnenflecken« 1998, »Böse Zellen« 2003, »Fallen« 2006), das vor allem Frauen in entfesselter Freiheit und tiefer Verbundenheit zeigt, bevor die harte Realität in Form von brutalem Sex und Erniedrigung sie wieder einholt. Aber auch wenn der Beginn an Alberts Filme erinnert und die Handlung eine sozialrealistische Bearbeitung vermuten lässt, bestätigt »Chucks« die sich bereits seit ein paar Jahren abzeichnende Abwendung vom österreichischen ›feel bad cinema‹. Der Darstellung von Tristesse setzen neueste Produktionen poetischere Bilder entgegen. Katharina Mückstein etwa zeigt in ihrem Debütfilm »Talea« (2013) das Tanzen ebenfalls als Moment der Glückseligkeit, setzt Alberts ekstatischen Filmbildern aber eine Zeitlupensequenz entgegen, die den Moment voll auskostet. Die Tanzszenen in »Chucks« wirken hingegen eher wie ein flüchtiges Zitat des früheren österreichischen Sozialrealismus und enden nicht im absoluten Ekelzustand. An die Stelle des Tanzes tritt, neben der prominenten Musik heimischer Künstlerinnen, allen voran Soap&Skin, die der Protagonistin Mae unterstützend eine starke weibliche Stimme geben, die Choreographie eines Tieres: eines weißen Axolotls mit roten Farbakzenten, das im Tiefschwarz des Aquariums durchs Bild schwebt.
Axolotl
Ein Axolotl ist ein (mexikanischer) Schwanzlurch, der sein Larvenstadium zeitlebens nie verlässt. Paul hält sich zwei dieser Amphibien als Haustiere: Bonnie und Clyde. Auch Mae steckt in ihrer Kindheit fest, der Krebstod ihres Bruders, der das ganze Familienleben zerbrochen hat, nagt an ihr. Die roten Chuck Taylor All Stars ihres Bruders trägt sie als Andenken tagtäglich, gemeinsam mit ihren roten langen Haaren sind sie die einzigen Farbakzente im Film, der sich sonst durch eine auffallende Konzentration auf Schwarz-Weiß und dem alltäglichen Grau der Stadt auszeichnet. Erinnerungen an ihren Bruder im Spital zeigen eine rein weiße Umgebung und auch Pauls Wohnung, die in gewisser Weise ebenfalls ein Krankenzimmer ist, ist hell und weiß gehalten. Selbst die bunten Graffitis der Hausbesetzergruppe, der Mae angehört, werden vom Schwarz der Dunkelheit geschluckt.
Eine andere Besonderheit des Axolotls ist seine Regenerationsfähigkeit, verliert es seine Extremitäten, werden diese einfach wieder hergestellt. Mit kleinen Tupperdöschen, in denen sie körperliche Reste wie Sperma oder Fingernägel aufbewahrt, erhofft sich auch Mae Pauls Leben festhalten zu können, dessen Gesundheitszustand sich immer mehr verschlechtert. Durch die Begleitung des sterbenden Pauls erlebt Mae, was ihr bei ihrem Bruder verwehrt geblieben ist und kann so auch von ihm Abschied nehmen und den Verlust verarbeiten. Nach Pauls Tod schickt sie die Tupperdöschen auf einem Floß über den See durch ein Spalier aus gestrickten Schals hindurch. Bei diesem Ûberfahrtsritual lässt sie auch die roten Chucks am See zurück. Mae ist ihrem Larvenstadium entkommen.
Filmografische Angabe
»Chucks« (A 2015)
Regie/Drehbuch (nach dem Roman von Cornelia Travnicek): Sabine Hiebler, Gerhard Ertl
Kamera: Wolfgang Thaler
Produktion/Verleih: Dor Film/Stadtkino Filmverleih