Bernhard Günther, Künstlerischer Leiter von Wien Modern, ist auch an der Kaffeemaschine ein Experte. Behände den Siebträger gefüllt, ist er bereit für ein kurzes Interview für skug – zwischen diversen Vorbereitungsterminen ist für Gastfreundschaft im Wien Modern Büro in der Johannesgasse jedenfalls Zeit. Und Zeit ist auch ein wichtiger Faktor für den kommenden Monat, denn die sollte sich die Leser*innenschaft freischaufeln, um einige bisher unerhörte Konzertmomente im Rahmen dieses mehr als hundert Veranstaltungen umfassenden Herbstgroßereignisses zusammen mit anderen zu erleben. Neue Musik für Publikum: Wie fühlt sich das an?
skug: Das Fotosujet des heurigen Festivals mit der Aufforderung »Und jetzt alle zusammen« erinnert an die Windungen eines menschlichen Gehirns, bei näherer Inspektion stellt man aber fest, dass es sich um ein Knäuel sogenannter Glanzwürmer handelt. Welche Glanzleistung dieser winzigen Wasserwesen führte zur Überlegung, sie als Poster-Entitys zu präsentieren?
Bernhard Günther: Die Glanzwürmer haben eine sehr erstaunliche Eigenschaft. Sie bilden gemütliche Knäuel aus bis zu 50.000 Individuen ihrer Art, um sich an ihre Umweltbedingungen anzupassen. Sie verbessern die Bedingungen für alle in der Community, indem sie so nahe zusammenrücken – falls es zum Beispiel zu kalt oder zu trocken werden sollte. Und wenn sich von außen Gefahr annähert, dann schaffen sie es in wenigen Millisekunden, in alle Richtungen auseinanderzustieben, ohne sich zu verheddern. Dieses Phänomen hat bereits zu einem Artikel im »Science Journal« geführt, einer mathematischen Studie, die dazu dient, Wissen für die Forschung abzuleiten, wie diese Entwirrungsbewegungen möglich sind. Diese bemerkenswerte Community haben wir als Sujet ausgesucht.
Zu der Aufforderung »Und jetzt alle zusammen«: Musik bringt ja – sprichwörtlich – Menschen zusammen. Dieses Sprichwort würde ich jederzeit unterschreiben. Und diese Eigenschaft von Musik ist zentral für ein Festival. Ein Ort, an dem man sich wohlfühlt, den man gerne besucht und wo es auch genug Zeit gibt, um außerhalb der Konzerte miteinander zu reden. In der speziellen Szene der zeitgenössischen Musik, wie ich sie ab den 1980er-Jahren begonnen habe kennenzulernen, wurde das gerne einmal komplett ausgeblendet. Da ging es vor allem – damals noch nicht gegendert – um den Komponisten oder sein Werk. Und dann kam lange nichts. Wie wichtig aber ein Biotop aus Menschen ist, die zum einen Musik komponieren und erfinden, zum anderen auch spielen und dann vor allem auch hören – das war in unserem Kunstbereich nicht immer so klar. Wir wollen uns heuer den Aspekt dieser Zusammenkunft näher anschauen.
1913 fand im Wiener Musikvereinssaal das in die Musikgeschichte als sogenanntes »Watschenkonzert« eingegangene Ereignis unter der Leitung von Arnold Schönberg statt. Es spielte das Orchester des Wiener Konzertvereins, der Vorläufer der Wiener Symphoniker. Das Publikum war so entsetzt über die neuartige Musik, dass es nach ein paar Stücken zu einem Tumult mit Prügeleien, Verletzungen und Festnahmen kam. Könntest du dir einen derartigen Eklat zum Beispiel auch in einem Festivalrahmen wie Wien Modern vorstellen?
Ich habe lange versucht, zu verstehen, wie die damals »draufwaren«. Und ich verstehe es nicht ganz. Es gab erbitterte Lagerbildungen von totalen Befürwortern und totalen Gegnern. Beide Lager sind aber zu diesem Konzert hingegangen. Ich glaube, dass es so etwas in dieser Form nicht mehr gibt. Ich hätte ja nichts dagegen, wenn sich unterschiedlichste Haltungen artikulieren, wenn man sich an dem Erlebten reibt – natürlich in einem gewissen zivilen Rahmen, ich würde mir nicht wünschen, dass je wieder ein Konzertabend so eskaliert wie 1913 im Musikverein. Die Leute sind über die Sesselreihen im Goldenen Saal geklettert, nur um einem Andersdenkenden zwanzig Reihen weiter hinten eine Watschen zu geben. Heute sieht die Ausgangslage ja völlig anders aus: Das permanente Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ist in unserer Gesellschaft stark zu spüren. Gehen die Leute noch zu einem Konzert mit zeitgenössischer Musik? Gehen die Leute überhaupt noch aus dem Haus? Deswegen sind wir ja bei Wien Modern so neugierig auf die Auseinandersetzung mit dem Thema Publikum: Wenn es irgendwo auf der Welt ein zeitgenössisches Musikfestival mit richtig viel Publikum gibt, dann ist es einfach Wien Modern. Wir sind ein Ausnahmefall, denn wir können überhaupt nicht über mangelndes Publikum klagen. Letztes Jahr mussten wir ganz oft Leute wegschicken, weil die Säle zu klein waren oder wir eine Zusatzveranstaltung hätten einlegen müssen. Dieses Wiener Publikumsinteresse für ungewöhnliche Musik hat vermutlich auch damit zu tun, dass es hier diese lange Geschichte seit Schönberg gibt.
Die Themenwahl hat auch mit dem 150. Geburtstag von Arnold Schönberg zu tun: Wir schauen genau in eine Problemzone hinein, die es seit Schönberg gibt. Bis heute geistert ja dieses Klischee herum, neue Musik sei zu kompliziert oder nur etwas für einen kleinen elitären Zirkel. Diese Klischees haben sich, soweit ich das nachvollziehen kann, zu einem großen Teil rund um Schönberg mit Skandalmomenten wie dem Watschenkonzert oder 1918 der Gründung des Vereins für musikalische Privataufführungen entwickelt. In einem Werbeprospekt für den Verein stand tatsächlich, der Verein diene zum Schutz der Aufführungen »vor dem korrumpierenden Einfluss der Öffentlichkeit«. Wenn das heute jemand sagen würde, wäre das kulturpolitisch sofort »weg vom Fenster«. Andererseits war das damals eine geniale Musikvermittlungsaktion, diente dem Community Building. Das war eine Aktion zum Aufbau eines Publikums, von der sich vielleicht noch heute ein bisschen Nachhall findet. Wir sind ja in Wien in der glücklichen Situation, dass es eine erstaunlich große Menge von Menschen gibt, die sich mit Begeisterung dieses ganze experimentelle Zeugs anhören. Und daran wurde über viele Jahrzehnte gearbeitet. It’s all about the community!
Nach Schönberg und Mahler gab es in Wien ja eine lange Geschichte von Exil und Emigration, viele Menschen sind im Nationalsozialismus gestorben oder geflohen. Auch die 1950er-Jahre waren immer noch düster und extrem konservativ, aber es gab langsam wieder eine Off-Szene mit Underground-Konzerten ab den frühen Nachkriegsjahren. Auch Friedrich Cerha war einmal Underground, man glaubt es kaum. Es gab Konzerte im damaligen Strohkoffer, einem Kellerlokal des Art Club unter der Loos-Bar oder auch in Teppichhäusern. In Wien wurden ja dann in den darauffolgenden Jahrzehnten viele Ensembles gegründet. In den späten 1950er-Jahren als erstes das Ensemble »die reihe«. Eines ihre ersten Konzerte wurde zum großen Skandal, mit dem Klavierkonzert von John Cage im Wiener Konzerthaus. Das Ensemble Kontrapunkte feiert heuer bei uns im Rahmen des Festivals sein 50. Musikvereins-Bühnenjubiläum, dann folgten das Ensemble XXI. Jahrhundert aus den 1970er-Jahren oder auch das Klangforum Wien, das 1985 gegründet wurde. In den letzten zehn bis zwanzig Jahren gab es erneut eine Welle an Neugründungen, von denen wir heuer viele präsentieren werden: PHACE, Black Page Orchestra, Studio Dan und so weiter. Es gibt eine riesige, lebendige Szene – und das meine ich auch mit der Bezeichnung Biotop: viele Künstler*innen, die in der Stadt über einen langen Zeitraum hinweg etwas tun, selbst wenn es teilweise im Off- oder Off-Off-Bereich passiert.
Was auch auffällt: Das Festival Wien Modern scheint den skandalös künstlichen Hype um das Thema KI elegant links liegen zu lassen …
Ich bin immer vorsichtig, mich von einem Hype in irgendeine Richtung abschleppen zu lassen. Wien Modern ist zu einem dermaßen hohen Grad handgemacht, dass es fast schon detailversessen ist. Ich habe heuer relativ viel zum Thema KI recherchiert, weil wir einen Projektvorschlag zur Datenanalyse eingereicht haben, und habe aus mehreren Blickwinkeln angefangen, mich mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen. Einerseits, weil es Firmen gibt, die uns KI verkaufen wollen, andererseits, weil es Firmen gibt, die sagen, sie hätten bislang damit schwierige Erfahrungen gemacht. Das Thema wird eine größere gesellschaftliche Dynamik erzeugen, da bin ich mir sicher. Aber im Sinne dessen, was ich vorher gesagt habe, dass wir versuchen, auf das Biotop zu schauen, wäre ich vorsichtig, bevor ich im großen Stil KI in dieses System einschleusen würde. Auf der anderen Seite sind wir aber auch wieder mit George Lewis im Gespräch für nächstes Jahr und er arbeitet schon seit den 1970er-Jahren mit KI, als es noch Machine Learning geheißen hat.
Was war dir heuer beim Programmieren von Wien Modern #37 wichtig, welche Leitfäden gab es für dich bei der Auswahl der präsentierten Werke?
Auch wenn bei Wien Modern immer ein Thema auf dem Plakat steht, ist es mir am Ende wichtig, dass es vielfältig und widersprüchlich ist. Deshalb gibt es viele subkuratierte Veranstaltungen, bei denen auch ich mich überraschen lassen werde, was dabei herauskommt. Es wäre ja nichts langweiliger als fünf Wochen, die vor allem den Geschmack und den Horizont einer einzelnen Person wiedergeben. Das finde ich extrem wichtig. Heuer habe ich darauf geachtet, dass in allen klassischen, großen Formaten, vor allem bei den Orchesterkonzerten und teilweise im Streichquartett immer mindestens ein irritierender Moment zu finden ist, der das Verhältnis zwischen Musik und Publikum anders denkt. Beim Eröffnungskonzert am 30. Oktober beispielsweise mit dem Stück »Terretektorh« von Iannis Xenakis, der als Architekt einen Grundriss in die Partitur zeichnet: Konzentrische Kreise zeigen den Boden, und Punkte geben vor, wo die 88 Orchestermusiker*innen im Publikumsraum sitzen.
Beim Erste Bank Konzert im Wiener Konzertsaal gibt es beim Stück »Das Pizzicato Mysterium« von Manos Tsangaris einen einkomponierten Moment, in dem das Licht ausgeht. Der Dirigent dreht sich nach dem Verbeugen nicht um zum Ensemble, sie fangen aber trotzdem an zu spielen. Tsangaris nehme ich noch kurz als Stichwort – von ihm gibt es heuer die größte Neuproduktion zum Schönberg-Jubiläum. Tsangaris ist ein Theaterzauberer, er inszeniert ein großes Musiktheaterstück mit dem Titel »Arnold Elevators« in der Secession vom Keller bis zum Dach – auf dem Dach der Secession war nicht nur das Publikum von Wien Modern bisher noch nicht. Im Brahms-Saal des Musikvereins gibt es weitere sechs Mini-Stationen über zwei Stockwerke verteilt, dazu kommen weitere Teile der »Arnold Elevators« im Konzerthaus-Keller – im ehemaligen dietheater bzw. brut – und im Arnold Schönberg Center.
Beim Festkonzert im Rathaus am 6. November werden zwei Stücke von Arnold Schönberg präsentiert – für Wien Modern ja quasi »alte Musik«. Jetzt gibt es diesen uralten Begriff der Enkel-Schülerin: Eine langjährige Wegbegleiterin des Schönberg-Schülers John Cage, Alison Knowles, hat Anfang der 1960er-Jahre ein Stück mit dem Titel »Proposition #2: Make a Salad« konzipiert. Es besteht daraus, dass das Orchester für das Publikum einen Salat zubereitet. Das werden wir im Rathaus für das Publikum aufführen. Fast zum Schluss des Festivals gibt es dann auch das schon erwähnte Klavierkonzert von John Cage, das in den 1950er-Jahren noch für einen Skandal gesorgt hat, weil die Musiker*innen im Saal verteilt waren und die Dirigentin sich eher so verhält wie ein unregelmäßiger Sekundenzeiger einer Uhr. John Cage sagte dazu: »The conductor is no longer a policeman.«