Auch eine ganze Gesellschaft kann an einem kollektiven Trauma leiden, dessen Auswirkungen nicht nur die Politik durchziehen: Trotz der Frankfurter Auschwitz-Prozesse bzw. des Jerusalemer Eichmann-Prozesses vermutete der Autor Dan Diner »ein die Wahrnehmung verzögerndes tiefenpsychologisches Trauma« in Folge der Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesellschaft war erstarrt durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen. Der Kalte Krieg lenkte die Menschen in Folge erfolgreich gegen die kommunistischen und realsozialistischen Länder und brachte Ablenkung. Erst mit dem Fall der Mauer, als es keine kommunistischen Länder mehr gab, war eine echte Trauer über den Holocaust möglich. Plötzlich eröffneten sich Gedächtnisräume.
Dieser Ansatz könnte gut erklären, warum die kommunistischen Widerstandskämpfer*innen, wie Partisan*innen, die erfolgreich gegen die Nazis kämpften, aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung fielen – sie wurden in einen Bogen mit den Regierungen gewisser Länder eingespannt und mit diesen entsorgt. Aber auch der jüdische Widerstand selbst verschwand in der Versenkung. Gewisse österreichische Politiker*innen sind sehr erfolgreich, vor allem jetzt gerade, jedes »linke Element« aus dem Widerstand gegen die Nazis zu entfernen. Eine Verdrehung der Geschichte. In Kärnten war das schon sehr lange so, Slowen*innen wurden erniedrigt, Verschlepptenmahnmäler errichtet und stehen bis heute. Nun hat diese Tendenz ganz Österreich ergriffen, für manche bleiben allein der christlich-soziale Kurt Schuschnigg und religiöse Widerständler*innen als tapfere Helden gegen die Nazis übrig. Dass die deutschnationalen Regierungen Linke bereits in Lager inhaftieren ließen, die aus diesem Grund schlecht kämpfen konnten – dieses Wissen ist völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Seltsame Lähmung
Ein klares Kennzeichen für Extrem-Traumata: Abspaltung. Gefühlsabspaltung in diesem Fall. Ein Schutzmechanismus. Die historische Folge: Unterbleibendes Tun. Womit die Menschen in Europa damals nicht klar kamen, war die Überschreitung der absolut geltenden Schranke der Selbsterhaltung – der Selbsterhaltung der Täter, die weder ökonomische Vorteile noch Lustbefriedigung von ihren mörderischen Todessehnsüchten abhielten. So schrieb der österreichische Nazi-Dichter Josef Weinheber: »Am tiefsten ergreift der Tote, der Dulder aus Eis.« Gefährlich ansteckend ist in Weinhebers Gedichten, die noch lange in österreichischen Schulbüchern zu lesen waren, die starke Todesliebe, die »Bearbeitung« von Todesfällen mit Todessehnsucht (»Dann leg die Schlinge an!«), die aber die realen Morde der Nazis ignorierte.
»Das Geschehen blieb vom Bewusstsein notwendig abgespalten«, befindet Dan Diner. Die »Vorstellung vom Fortschritt (und damit alle Varianten des Marxismus)« lösten sich angesichts dieser extremen Erschütterungen auf. Kein sozialer Fortschritt für die Gesellschaft mehr möglich: völlige Selbstblockade. Das Fürsorgedenken für die »Sozialschwachen« dominiert in Folge anstatt sozialer Gerechtigkeit bzw. Rechten auch für Menschen mit niedrigem Lohn oder ganz ohne. In Deutschland würde die Bedeutung des Holocaust gerne auf »Machenschaften, Kabale und Verschwörungen zurückgeführt«, schreibt Diner. Gerade jetzt mit Corona taucht die Kabale-Theorie wieder verstärkt auf, vertreten auf den Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrationen z. B. von evangelikalen US-Gruppen, die behaupten, Kinder würden von einer Elite entführt und misshandelt, was sehr an alte antisemitische Propaganda erinnert.