Die Scheibe liefert vermutlich den aktuell besten Sound zwischen New York und Ostfriesland. Genauer, ein sauberes Pastiche dessen, was diese Gegenden draufhatten, als sie was draufhatten. Es klingt folglich mal ein wenig nach Lou Reed und mal nach Trio aus Großenkneten. Die Größe von Stereo Total liegt zunächst darin, dass die bekannte Mucke dennoch frisch klingt. Das ist, um einen Songtitel der Platte sinnig zu zitieren, nicht »Einfach«. Manche Nummern sind so auf dem Punkt, dass man sich fragt: »Warum ist noch nie jemand auf die Idee gekommen, endlich den Satelite of Hate steigen zu lassen?« Françoise Cactus und Brezel Göring haben sich die Instrumente, die sie für ihre 8-Spur-Kassetten-Aufnahmen brauchten, allesamt auf dem Rummel geschossen. Auf einen solchen klimperigen Klangteppich kann man vermeintlich nicht einen »Tod des Tristan«-Text stellen. Tatsächlich klingen die Lyrics auch zunächst ein bisschen nach Sockenschuss. Gerade der französische Akzent von Cactus bringt der Platte beträchtlich Farbe und erhöht den leicht bizarren Charme der Combo. Nach einer Weile dämmert, während der in den Französisch gesungenen Passagen, woher der Unmut der alten Französischlehrerin damals stammte: »Warum ‘ört mir in diese Klassé niemand zu?« – »Weil sie meistens in einer Fremdsprache reden, Frau Lehrerin.« (Gelächter) Trotzdem hätte man ihr besser zuhören sollen und es ist auch irgendwie überhaupt ganz schön wichtig, zuzuhören. Bei der Platte »Ah! Quel Cinéma!« sprudelt dann nämlich plötzlich ein unerwarteter Reichtum hervor, den man sich zur Bontempi-Orgel gar nicht erwartet hätte. Eine gewisse Schwermut, Trauer sogar, ja vielleicht zeigt sich eine besondere Lebenstiefe, die sich schützend ins Gewand des Seltsamen hüllt. Die Menschen finden oft nicht zueinander, sie behandeln sich schlecht und sind grausam. Ja, leider. Es ist wohl auch nicht einfach, mit Drogen in Würde zu altern. Von all dem erzählen Stereo Total in »Ah! Quel Cinéma!« auf ihre eigene, schwer nachahmbare Art und manchmal tut’s sogar ein bisschen weh, wenn sie zum sanften Gesäusel eines Theremins singen:
Hier kommt eine Schwester, ihr Kittel ist schneeweiß
Keine Angst, sei munter, sie lächelt, denn sie weiß
Sanft schnallt sie dich fest, damit du dich nicht bewegst
Dich erwartet ein Fest, das Fest des Vergessens
Okay, genau das haben sie mit dem jungen Lou Reed gemacht, um ihn von der angeblichen Krankheit seiner »Inversion« zu heilen. Diesen Horror an Dummheit und Menschenverachtung sollte man nie vergessen. Der Song »Elektroschocktherapie« von Stereo Total erinnert uns schauerlich-schön daran.
Live zu sehen sind Stereo Total am 24. Mai 2019 um 20:15 Uhr auf der Salztorbühne beim Donaukanaltreiben 2019 in Wien: https://www.donaukanaltreiben.at/