Einmal öffnete ich, in Gedanken versunken, einen Umschlag, der auf dem großen Arbeitstisch in der Mitte der »Bunte Zeitung«-Redaktion lag. Und schreckte zurück, als ob ich mir die Finger verbrannt hätte: In dem Umschlag waren lauter Fotos eines aufgedunsenen, schwarzen Leichnams. Mein Kollege hatte den Tod von Richard Ibekwe, der in Polizeigewahrsam verstorben war, bis in die Obduktionskühlkammer hinein recherchiert! So war er, mein »Bunte Zeitung«-Kollege Di-Tutu Bukasa, der obsessiv und anstrengend seinen ganz eigenen Gedankengängen Taten folgen ließ und meistens noch andere mitriss. Hatte ihn einmal ein fixer Gedanke gepackt, war es beinahe unmöglich, ihn davon abzubringen. Er brachte damals, Anfang der 2000er-Jahre, Schwung in die Flüchtlingsdebatte und lud persönlich die Eltern von Seibane Wague nach Wien ein, deren Sohn im Stadtpark von einem Polizisten sozusagen erdrückt worden war. Erstickt. So lernte ich auch Seibanes Schwester kennen, die zum Zeitpunkt des 9/11-Terroranschlags hochschwanger aus dem New Yorker World Trade Center gelaufen war. 400 Stufen treppab. Sie schaffte es. Ihr Bruder nicht.
Razzia in Traiskirchen
Damals, Anfang der 2000 Jahre, fand noch niemand etwas dabei, dass Flüchtlinge im Lager Traiskirchen lebten und ohne Tickets für die Badner Bahn oder eigenes Geld nicht hinaus in die Großstadt Wien konnten. Kein Kontakt zur Bevölkerung. Doch auf mysteriöse Weise drangen Nachrichten zu uns in die Redaktion. Als wir hörten, dass es eine Razzia im Afrikanerhaus gegeben hätte, fuhren wir hin und sprachen trotz Lagerbetretungsverbotes für Außenstehende mit betroffenen AfrikanerInnen. Sie wirkten apathisch und ruhig, erinnerten mich an den Film »Die Arbeitslosen von Marienthal« mit der traurigen Verlangsamung in den Bewegungen. Später nahm ich an den tagelangen Befragungen zur Razzia durch den Unabhängigen Verwaltungssenat teil. Der Richter war sehr genau. Den Menschen waren die Hände mit Kabelbindern am Rücken gefesselt worden, sie hatten auf dem Boden knien oder liegen müssen und stundenlang nichts trinken oder essen dürfen. Wir berichteten als einzige Zeitung. Damals lernte ich, hinzugehen und die Menschen direkt zu befragen, was mir später oft half, z. B. als ich 2010 die von der Saualm geflohenen und angeblich so gefährlichen Flüchtlinge im Kärntner Krumpendorf interviewte. Als erste Journalistin, die direkt mit ihnen sprach.
Sans Papiers und »Augustin«
Di-Tutu ergriff radikal Partei für die Flüchtlinge, obwohl er selber als Student nach Wien gekommen war und Völkerrecht an der Universität Wien abschloss, als Jörg Haider dort Assistent war. Seine Idee, afrikanische Sans Papiers gegen echte Polizisten auf dem Polizeisportplatz an der Alten Donau spielen zu lassen, hielt ich damals für gefährlich. Wolfgang Schüssel, der dort ebenfalls spielte, ließ sich zwar nicht erweichen, den Jungs zu helfen, aber abgeschoben wurde auch keiner. Jetzt, bei den Begräbnisfeierlichkeiten für Di-Tutu Bukasa traf ich etliche dieser jungen Männer wieder, die hocherfreut waren, mich zu sehen. Sie sind die ganze Zeit über in Wien geblieben, haben mittlerweile Ehefrauen und Kinder. Als Zeitungsverkäufer taugten sie damals nicht – zu riskant, alleine in der Öffentlichkeit zu stehen. Wir brachten 2003 unsere besten Zeitungsverkäufer zum »Augustin«, der damals nicht besonders erfreut war. »Wir können kein Englisch«, hieß es. Dann brachten die Jungs eine Auflagensteigerung von 30.000 auf 38.000 Zeitungen. Sie standen einfach gerne in der Öffentlichkeit und lachten und unterhielten sich. Plötzlich stand ein Afrikaner in fast jeder U-Bahn-Station, scherzte mit den Kindern und strahlte die Grantscherben an. Das veränderte das Wiener Stadtbild gewaltig. Der einzige, der uns damals unterstützte, war Michael Zikeli, der Leiter eines Caritas-Heimes.
Di-Tutu starb in der Nacht des 25. Juli 2018 ganz friedlich vor dem Fernseher, mit der Fernbedienung in der Hand, erzählte seine Frau. Ein ruhiges Ende ohne Kampf für einen Kämpfer. Sein Herz hat versagt.