George Orwell © Cassowary Colorizations, Wikimedia Commons, CC BY 2.0
George Orwell © Cassowary Colorizations, Wikimedia Commons, CC BY 2.0

Was man von Orwell über Österreich lernen kann

Am 21. Jänner 1950 verstarb der Schriftsteller George Orwell an Tuberkulose. Aus Anlass seines 75. Todestages möchte skug an seinen radikalen Begriff von Freiheit erinnern. Die Provokation? Mit totalitären Dystopien hat das, trotz FPÖ, nichts zu tun.

George Orwell ist wie Fußball: Er wird von Menschen aller politischen Couleurs vereinnahmt. Für Liberale ist er ein genialer Kritiker, mit dem man Trump und Datenkraken verstehen könne. Konservativen gilt er als Antikommunist. Und während der Corona-Pandemie waren die Kanäle von »Maßnahmen-Gegner*innen« voller Anspielungen auf »1984«. Orwell selbst ließ jedoch nie einen Zweifel daran, wo er sich politisch befand. In »Why I Write« deklarierte er: »Jede Zeile ernsthafter Arbeit, die ich seit 1936 aufgesetzt habe, ward geschrieben, direkt oder indirekt, gegen Totalitarismus und für demokratischen Sozialismus.«

Sozialist aus Überzeugung

Dennoch, die unterschiedlichen Auslegungen sind in seinem Denken angelegt. Orwell wusste, dass man Widersprüche und Ambivalenzen aushalten muss. Gerade deshalb kann man heute viel von ihm lernen. In »My Country Right or Left« legte er 1940 das Dilemma offen, das es für einen Sozialisten bedeutete, im Zweiten Weltkrieg das Britische Kolonialreich zu unterstützen. »Es gibt keine echte Alternative dazwischen, sich Hitler zu widersetzen oder sich zu ergeben.« Zwar könne man sich intellektuelle Rechtfertigungen zurechtlegen, doch letzten Endes habe er sich aus emotionalen Gründen entschieden, sich für »sein Land« einzusetzen. »Nur die Revolution kann England retten, jetzt hat sie begonnen und sie kann nur halbwegs schnell fortgesetzt werden, wenn wir Hitler raus halten. Ich wage es zu sagen, dass die Gossen Londons voll Blut fließen werden. Also gut, lasst sie, wenn es notwendig ist!« Widerstand sei eine Angelegenheit von Leidenschaften, kein rationales Geschäft. Polemisch wird Orwell gegen die »linken Intellektuellen, die so aufgeklärt sind, dass sie gewöhnliche Emotionen nicht verstehen. Es sind gerade die Leute, deren Herz nie beim Anblick des Union Jack geflattert hat, die, wenn sie da ist, vor der Revolution zurückschrecken werden.«

Gewöhnlich ist dieser irrationale Kern von Politik der Punkt, an dem Intellektuelle ihren Moment gekommen sehen. Wenn Menschen unvernünftig sind, brauche es eine Elite, die ihre Emotionen in die richtige Richtung lenkt. Parteien, die Qualitätspresse, NGOs – sie alle sehen sich gewöhnlich als Instanz, die vorgibt (bzw. vorlebt), wie man politische Gefühle vernünftig einsetzt. Sie unterscheiden zwischen richtig und falsch, Nützlichem und Schädlichem. Der radikale Gedanke Orwells war demgegenüber, aus den politischen Leidenschaften ein Argument für unbedingte Pressefreiheit abzuleiten. Freiheit des Verstandes, hält er fest »besteht darin, zu beschreiben, was man gesehen, gehört und gefühlt hat und nicht darin imaginäre Fakten und Gefühle zu fabrizieren.« Nichts dürfe der Beschreibung in den Weg kommen. 

1946 klagt der Sozialist schonungslos die Zensur und gezielte Falschinformation durch die stalinistische UdSSR an. Doch Orwell geht weiter als bloß Fake-News zu beklagen. Die Gefahr geht von den eigenen Reihen aus – von Demokrat*innen. Auch hier grassiere die Vorstellung, »die Wahrheit zu veröffentlichen wäre inopportun oder würde in die Hände von irgendjemanden spielen«. Zensur beginnt mit Selbstzensur. Ein aktuelles Beispiel: Im Sommer habe ich mit einem ungarisch-sprachigen Journalisten gesprochen, der für eine liberale Tageszeitung in Budapest geschrieben hat. Als er einen kritischen Artikel zu europäischen Waffenlieferungen in afrikanische Kriegsgebiete schreiben wollte, habe sich die Zeitung geweigert, das zu veröffentlichen. Denn man würde damit Orbans anti-westlicher Propaganda Vorschub leisten. Freiheit endet, wenn Autor*innen Themen nicht nach Leidenschaft auswählen, sondern wenn sie sich an einer rationalen Agenda ausrichten.

Die Feinde der Freiheit

Dafür braucht es keinen Faschismus. Orwell hat erkannt, dass Pressefreiheit nicht unter Knüppeln stirbt. Sie ist vor allem dadurch bedroht, dass ihre Bedingungen still und heimlich untergraben werden. Man kann sich seine Worte auf der Zunge zergehen lassen: »Die Idee intellektueller Freiheit steht in unserer heutigen Zeit aus zwei Richtungen unter Beschuss. Auf der einen Seite gibt es ihre theoretischen Feinde, die Apologet*innen des Totalitarismus. Auf der anderen stehen ihre unmittelbaren, praktischen Feinde, Monopol und Bürokratie. Jede*r Autor*in und jede*r Journalist*in, der*die seine*ihre Integrität bewahren möchte, findet sich heute durch die allgemeine Bewegung der Gesellschaft ausgebremst. Was sie zurückhält, ist die Konzentration der Presse in den Händen einiger reicher Männer, den Griff des Monopols auf Radio und Film, den Unwillen der Öffentlichkeit, Geld für Bücher auszugeben, was es nötig macht, dass fast alle Autor*innen stumpfer Arbeit nachgehen und die Kriegsatmosphäre, die unsere Gesellschaft seit einigen Jahren durchzieht.«

In letzter Zeit ist viel von Gefährdungen der Pressefreiheit die Rede. Zu Recht. Der Wiener FPÖ-Chef Dominik Nepp hat kürzlich öffentlich fabuliert, Presseförderung gezielt einzusetzen, um einem linksliberalen »Scheißblatt«, dem »Standard«, den Garaus zu machen. Der Verband der Chefredakteur*innen hat das richtig als »direkten Angriff auf die Informationsfreiheit« bezeichnet. Sollte Blau-Schwarz zustande kommen, müssen wir mit Attacken auf kritische Medien und einzelne Journalist*innen rechnen. Sie verdienen volle Solidarität! Bei aller berechtigten Kritik, die man an liberalen Medien oder den ORF haben kann, muss intellektuelle Freiheit an erster Stelle stehen.

Interessant an den blauen Drohungen ist jedoch, dass es sich bei Nepps Fantasien nicht um klassische Zensur handelt. Er träumt nicht davon, kritische Berichterstattung zu verbieten – sondern davon, die Förderrichtlinien so zu verändern, dass »Der Standard« unter dem Druck der wirtschaftlichen Konkurrenz wie »von allein« eingeht. Auch gibt es keine Aussage, die nahelegt, dass Nepp kritische Journalist*innen, die jetzt noch für »Scheißblätter« schreiben, daran hindern wolle, in den verlassenen Ecken des Internets ihre Berichte zu veröffentlichen. Nur die große Plattform soll ihnen genommen werden. Mit Orwell gesprochen: Wir haben keinen Grund zur Annahme, dass Nepp ein »theoretischer Feind« der Pressefreiheit ist. Er droht lediglich damit, die »unmittelbaren, praktischen Feinde, Monopol und Bürokratie«, gezielt einzusetzen. Hier liegt der Hund begraben. 

Alte Gedanken, neue Methoden

Das Monster der Zensur von oben ist heute blutleer. Es gibt keine Despoten mehr, die verhindern können, dass eine Meinung veröffentlicht wird. Selbst autoritäre Staaten wie China dulden es, dass ihre Bürger*innen durch den Einsatz von VPNs an kritische Inhalte kommen. Denn wir leben in Zeiten einer »Informationsflut«. Doch die »Flut« ist keine Naturerscheinung und kein Problem Einzelner. Sie ist das heutige Äquivalent von Zensur – Indifferenz. Autoritäre Kräfte haben es nicht mehr nötig, kritische Berichterstattung und kluge Analysen zu unterbinden. Es genügt ihnen, sie zu übertönen. 

Das ist die Funktion von Parteimedien, von KI-generierten Berichten und geschickt angepassten Algorithmen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die FPÖ dafür eintritt, unpolitisches Esoterik-Geschwätz zu fördern. Genauso wie es erklärt, warum Elon Musk sich als Verteidiger der Redefreiheit inszenieren kann und gleichzeitig seine eigene Plattform manipuliert. Zwischen genug Gewäsch gehen auch tausend kritische Stimmen unter. Die »Informationsflut« ist ein gewolltes Mittel, um kritische Positionen klein zu halten. Niemand, auch nicht der überreichste Mann der Welt, verfügt über den medialen Wandel. Aber er lässt sich strategisch einsetzen.

Nepps verbale Entgleisung lenkt von der Banalität der FPÖ-Medienpolitik ab: Sie ist langweilige Zahlenschieberei. Vereinzelt können wir unter einem »Volkskanzler« mit schockierenden Aussagen oder Slap-Klagen rechnen. Doch in erster Linie wird das »blaue Wunder« darin bestehen, den Verfaulungsprozess eines maroden Systems zu beschleunigen. Dafür muss man niemandem drohen, sondern bloß Jahr für Jahr die Förderrichtlinien geringfügig ändern. Und sollte es einmal mit dem »Standard« »vorbei sein«, werden sich die wenigsten an den Tweet von Dominik Nepp erinnern. Wohl aber daran, dass die Zeitung jahrelang um Abonnent*innen gebettelt hat.

Vier Provokationen

Was aus dem Ganzen mitnehmen? Hier einige Gedanken, mit denen uns George Orwell heute in Unruhe versetzen kann:

  • Politik ist eine Angelegenheit von Leidenschaften. Es ist zu wenig, Medien-Oligarchien mit »Medienbildung« oder »neutralen Berichten« entgegenzutreten. Politik heißt, sich auf unvernünftige Gefühle einzulassen. Dissidenz verlangt, die eigenen Emotionen zuzulassen.
  • Angesichts von Unfreiheit ist Selbstzensur der »Normalfall« und Zensur von oben ein Sonderfall. Die Attacken auf den »Standard« sind beängstigend. Das bedrohlichere Signal ist aber, dass den österreichischen Medienverbänden als Reaktion nichts Besseres einfiel, als zu bitten, »die österreichische Identität des Medienwesens zu erhalten«. Auf jeden Nepp kommen zehn Nepotisten.
  • Orwell sah die Gefahr seiner Zeit im Totalitarismus. Es ist jedoch nicht klar, ob die »Volkskanzler« und Oligarchen von heute noch versuchen, alles in ein einziges System zu integrieren. Viel bequemer scheint es zu sein, Dissidenz bestehen zu lassen, aber klein zu halten.
  • Freiheit ist die Freiheit aller, ihre Perspektive zu artikulieren – oder sie ist nicht. Wer Emanzipation will, muss deshalb Intelligenz, Kreativität und Neugier feiern.
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