Thomas Cornelius Desi und Georg Steker © Ian Ehm
Thomas Cornelius Desi und Georg Steker © Ian Ehm

Von heiligem Zorn bis KI als Blackbox

Mit den Musiktheatertagen Wien findet 2023 bereits zum neunten Mal ein Komplementärprogramm zur beginnenden Saison an den Wiener Oper- und Theaterhäusern statt. Vom 13. bis 23. September werden musiktheatrale Produktionen an den verschiedensten Spielorten und öffentlichen Plätzen dargeboten.

Von »einer gut eingebetteten Saisoneröffnung des Zeitgenössischen« spricht Geschäftsführer Georg Steker, gemeinsam mit Thomas Cornelius Desi als künstlerischer Leiter verantwortlich für das Programm der Musiktheatertage Wien. Noch im letzten Jahr fand das Festival fast ausschließlich in den Räumlichkeiten des WUK statt. Bekanntlich wird dort gerade umgebaut, sodass in diesem Jahr lediglich der WUK-Projektraum übrigbleibt. Vielleicht war der Umbau ein Anstoß, auf Nachfrage bei Steker aber nicht der eigentliche Grund dafür, sich in diesem Jahr auf elf verschiedene Spielstätten in der ganzen Stadt zu verteilen. Steker versteht die Ausweitung des Festivals als eine Öffnung, mit der »größere Zuschauerkreise« angesprochen werden sollen. Dabei hört sich das Wort Spielstätten hier ziemlich antiquiert an. Denn neben der Hofmusikkapelle Wien (Festivaleröffnung mit »Heiliger Zorn / detuned«) werden gleichberechtigt Orte des öffentlichen Raums einbezogen, wie der Praterstern und die Donauinsel (»Passagieren«) oder das Kulturzentrum Siebenstern (»Game of Ambivalence«). 

Musiktheater als Raum für Innovation und Debatte

Beliebte Laienfrage: Warum nennt ihr es Musiktheater und nicht einfach Oper? Dass das neue Musiktheater keine Oper ist, da sind sich Georg Steker und Thomas Cornelius Desi ziemlich einig. Zusammen haben sie seit 2015 die künstlerische Leitung der Musiktheatertage Wien inne. Musiktheater habe sich nach Thomas Cornelius Desi »vom Theater und von der Oper radikal entfernt«. Es »scheint eine merkwürdig hybride, eigene Theaterform geworden zu sein, die kaum noch in einem Bezug zur klassischen Musiktheaterform wie der Oper steht« so Desi weiter. Georg Steker spricht von einer »musealen« Oper, von der sich das Musiktheater als eine Darbietungsform abhebe, die »interessante Formen für aktuelle Themen findet«. 

Wie sehen diese interessanten Formen aus? Für all jene, die bisher wenig Berührungspunkte mit dem Musiktheater hatten, sind die Musiktheatertage Wien mit den vielen offenen Veranstaltungen ein Anlass für eine erste Begegnung. All jene, die das Musiktheater kennen, dürfen von acht Uraufführungen während der zehn Festivaltage neue Zugänge und aktuelle Stoffe erwarten – jedenfalls stellen die Musiktheatertage den Anspruch an sich selbst, innovativ zu sein. Nach Geschäftsführer und künstlerischem Leiter Steker füllen sie »seit 2015 eine Programmnische im Theater-/Musikprogramm« Wiens. 

Asa Horvitz: »Ghost« © Joachim Robrecht

Performance Art und Artificial Intelligence

Welche Grenzen werden überschritten und wie schauen diese »neuen Verbindungen« aus, die während der Musiktheatertage Wien geschaffen werden? Gerade die Musikgeschichte ist vereinnahmt von der Idee des genialen Schöpfers (nur Männer, gendern nicht notwendig). Das macht Ansätze wie den von Asa Horvitz spannend, dessen Stück »Ghost« während der Musiktheatertage Uraufführung feiert. Über die Produktion heißt es auf seiner Homepage: »We took books we loved, connected to death and loss and memory and mourning, trained an AI system on them, and made music from the words it gave us.« Keineswegs wird das Genie hier einfach an die Maschine überantwortet. Vielmehr geht es um die künstliche Intelligenz als »Blackbox«, einen diffusen Prozess, auf dem die Performance und Musik des Stücks aufbauen. Am 19. September feiert »Ghost« seine Premiere im brut nordwest. Samples finden sich bereits auf SoundCloud und sind auf Asa Horvitz’ Website verlinkt.

Das Musiktheater versteht sich laut Website der Musiktheatertage Wien als Ort »für Auseinandersetzung und Diskurs«. Die Frage stellt sich natürlich, wessen Diskurse im Musiktheater geführt werden können, ob sich die Auseinandersetzung auf ein akademisches Publikum beschränkt oder ob während der Musiktheatertage Grenzen überwunden und in der Kunst Themen behandelt werden können, die nicht bloß alle Teile der Gesellschaft betreffen, sondern diese auch teilhaben lassen. Eine dem Publikum zugewandte Öffnung des Musiktheaters gehe, so Georg Steker, aus dem Programm und der Vielfalt an Spielorten hervor. Was sich mit Blick auf das Programm durch die verschiedenen Produktionen zieht: Brüche mit linearer Inszenierungspraxis und die Aufhebung der konventionellen Trennung zwischen Publikum und Bühne.

Georg Steker & Daniel Riegler: »Passagieren« © Georg Steker

Ein Changier-Spiel von Absicht und Zufall

Den öffentlichen Raum als Spielort des Musiktheaters möchte Georg Steker als Interaktion verstanden wissen (»mit ihm spielen und nicht in ihm«). Jede einzelne Aufführung seiner gemeinsam mit Daniel Riegler konzipierten Produktion »Passagieren« sei »abhängig von der Location und vom Publikum«. Gespielt wird »Passagieren« unter anderem am Praterstern, auf der Donauinsel und am Friedrich-Engels-Platz im 20. Bezirk. Passant*innen werden »durch »Passagieren« Teil der Inszenierung. Wenn sie vorbeigehen, haben sie eine bestimmte Dynamik, Geschwindigkeit, mit der die Performer*innen arbeiten werden. Bleiben sie stehen und hören/schauen/zücken ihr Handy, ist das auch eine Dynamik, die aufgenommen und verarbeitet wird.« So entstehe »ein Changier-Spiel von Absicht und Zufall in einem zeitgenössischen Klangraum, der durch die Komposition stetig seine musikalische Farbe ändert.« 

Auch das von Thomas Cornelius Desi als »Theater der Begegnung« bezeichnete Stück »Kollapsologie II: Feuers Wende« im WUK-Projektraum begibt sich in dieses »Changier-Spiel« hinein. Als zweites Glied in der über vier Jahre angelegten »Kollapsologie«-Reihe Desis, behandelt »Feuers Wende« die OPEC-Geiselnahme 1975. Als Teil der Besetzung partizipiert das Publikum an der Handlung, die parallel in einer Form Live-Nachrichtensendung im Internet übertragen wird (der Link wird auf der Festival-Homepage bekanntgegeben). Für die Musik ist ein automatischer Konzertflügel zuständig, der eine Überschreibung von Chopins »Klavierkonzert Nr. 2« spielt. Den Bariton übernimmt Günter Haumer (analog).

Thomas Cornelius Desi: »Heiliger Zorn / detuned« © Barbara Palffy

Festivaleröffnung mit »Heiliger Zorn / detuned«

Eröffnet werden die diesjährigen Musiktheatertage von Thomas Cornelius Desis »Heiliger Zorn / detuned«. Altfranzösische Verse von Guernes de Pont-Sainte-Maxence (12. Jahrhundert) über Leben und Ermordung Thomas Becketts treffen auf zeitgenössische Lyrik von Thomas Ballhausen und ein Setup aus 8-Kanal-Audio, E-Gitarre und Schleifladenorgel. Wie aber fügt sich die Historie in die Gegenwart, wie passt der nahezu tausend Jahre alte Mythos um die Ermordung des Bischofs von Canterbury infolge eines Konfliktes mit dem englischen König in unsere Zeit? Desi antwortet auf Nachfrage mit Peter Sloterdijks »Zorn und Zeit«, dem Zorn des Widerstandes also und in diesem Zusammenhang auch dem Zorn der Jugend, die an »Heiliger Zorn / detuned« als Chor des Akademischen Gymnasiums Beethovenplatz beteiligt sind. Anlass der Produktion ist das 525 Jubiläum der Hofmusikkapelle Wien, zu dem die Musiktheatertage Wien mit Desis Produktion am 13. September ihr Eröffnungsstück geben dürfen. 

Das vollständige Programm und alle Veranstaltungsorte, die zwischen dem 13. und 23. September 2023 in Wien bespielt werden, finden sich auf der Website der Musiktheatertage Wien. Einige der Produktionen sind bei freiem Eintritt miterlebbar, z. B. der »Club Mosaik«, der am Rande des Festivalprogramms stattfindet und in dem die beteiligten Künstler*innen jenseits ihrer Produktionen für offene Sessions und Austausch über Kunst und Musik zusammenkommen. Sonst sind die Tickets für die einzelnen Produktionen auch, verglichen mit den Kosten für einen guten Platz in der Volksoper, zu sehr fairen Preisen erhältlich. Außerdem gibt es Care-Tickets für alle, die es sich sonst nicht leisten können. 

Link: https://mttw.at/

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