»Autobahn« (1974)
Didi Neidhart: Ich wundere mich immer wie langsam hier über die Autobahn gefahren wird. Das ist eher Cruising. In den US-amerikanischen Ohren kam »Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn« ja als Beach-Boys-Referenz »Fun, fun, fun auf der Autobahn« an.
Michael Giebl: Aber die fahren ja auch mit einem VW-Käfer durch die Gegend.
DN: Auf der Single fehlt der zweite, hektischere Teil, wo Vergangenheit (»No Fun in Stahlgewittern«) mit Zukunft (vom »Motorway« zum »Spaceway«) kurzgeschlossen wird. Grandmaster Flash hat in seinen Anfangstagen übrigens die selbe Rhythmusbox verwendet.
MG: Aber gerade auch dieses unglaublich pathosfreie, unterkühlte Simulieren einer »Mitternacht« (Film Noir in Space) oder das Vorwegnehmen von Synth-Wave mit »Kometenmelodie 2« ist hier das Geniale.
DN: »Kometenmelodie 2« ist mit seinem »Sister Ray«-Riff mein Lieblingstrack. Hier wird elektrisch verstärkter zu elektronisch generiertem Rock’n’Roll transformiert. Von da geht der Weg direkt zu Suicide, Synthie-Wave, Spacemen 3, Pan-Sonic.
»Radio-Aktivität« (1975)
MG: Der Titeltrack geht bei mir als Urmutter von OMDs »Electricity« durch. Hinter dem neuen Gott der Kernenergie, der uns mit strahlendem Licht die Sicht verstellt, liegt schwarze postnukleare Ödnis, durchweht von synthetischen Bleeps, Geigerzählertönen und Funksignalen.
DN: Avantgarde und Pop treffen hier noch radikaler aufeinander. Es gibt stoische Beats und flächige Keyboards, die schon eine Art Techno-Dub im Sinne von Basic Channel/Rhythm & Sound erahnen lassen (»Radioland«), andererseits beschwingten Electro-Pop (»Ätherwellen«) mit ebenso tollen Texten (»Wenn Wellen schwingen ferne Stimmen singen«).
MG: Als »ferne Stimmen« wohl auch im Kontext des Zeitdiskurses zu verstehen, der 1975 von der Anti-AKW-Bewegung befeuert wurde.
DN: Es geht auch um eine Revision des Begriffs »Avantgarde«. Nicht nur wegen den Beats. Bei »Stimme der Energie« spricht das Nicht-Humane selber und sagt: »Ich bin ein riesiger elektrischer Generator«. Auch »Radiosterne« hat diesen Techno-Alien-Aspekt, wo es ganz im Sinne von »Space Is The Place« um die Klänge von Pulsaren und Quasaren geht. Wie »Radio-Aktivität« überhaupt von der Straße (»Autobahn«) in den Weltenraum wechselt …
MG: »Antenne« ist mindestens so hot’n’steamy wie später Moroder. Eine kryptosexuelle Ballade über die Ûbertragung, die die libidinös imaginierte Vereinigung von Mensch und Maschine zelebriert.
DN: Eben »Wir richten Antennen ins Firmament/Empfangen die Töne die Niemand kennt«. Fassbinder hat »Radio-Aktivität« bei »Chinesisches Roulette« (1976) und im Epilog zu »Berlin Alexanderplatz« (1979) verwendet. Auch als er einmal bei »Stars in der Manege« aufgetreten ist, erklangen Kraftwerk!
»Trans Europa Express« (1977)
DN: Damit kam der Sequencer in die Popmusik. Zwei Monate später erschienen Giorgio Moroders »From Here To Eternity« und Donna Summers »I Feel Love«.
MG: Dazu besingen Kraftwerk im Gründungsjahr der Europäischen Komission zeitgenössische Dualismen. Wieder verzerrt die leichtfüßig-harmonische Instrumentierung von »Europa Endlos« die zugrundeliegende popkritische Message zwischen »Wirklichkeit und Postkartenbilder«, »Eleganz und Dekadenz«.
DN: »Spiegelsaal« kann durchaus als popistische Version Franz Schuberts, auf einem Gedicht von Heinrich Heine basierenden, »Doppelgänger« gelesen werden. Das ist das totale Gegenteil der endlosen Bewegungsräume bei »TEE«. Selbst der Beat klingt paranoid-klaustrophobisch. Aber wie bei »Hollywood Babylon«, Nico oder Amanda Lear wird dem Glamour nicht abgeschworen. Wurde ja auch in Hollywood abgemischt.
MG: Damit ist die »Mensch-Maschine« vorangekündigt. Angesichts Tempo, Beats und dem Verzicht auf Instrumentalausflüge erweitert sich das bisherige Bewegungsrepertoire. Das lässt schon vorahnen, was uns später bei New Wave begegnen wird: Existentialismus und Eskapismus. Weltschmerz, zu dem getanzt wird.
DN: Bei »Schaufensterpuppen« geht es ja in die Disco! Losung: »Wir gehen in den Klub/Und wir fangen an zu Tanzen«. Ist das nicht sogar das erste direkte Bekenntnis von Kraftwerk zum Dancefloor? Danach kommt gleich »Nightclubbing« von Iggy Pop, der mit David Bowie auf »The Idiot« James Brown mit Kraftwerk kreuzen wollte. Wobei Kraftwerk ja ihre eigene rhythmische Motorik ja auch aus James-Brown-Grooves destilliert haben.
MG: Ein Stück aus dem Lehrplan für Bands wie Fad Gadget und Metro Pakt (»Neue Straßen«). »Metall auf Metall« bietet sich auch als Kraftwerks Beitrag zum Industrial an.
DN: Aber auch Diskurs-Pop bevor es den Begriff überhaupt gab. Allein die Transformation eines Beats aus der rhythmischen Motorik eines Zugs verweist ja auf eine Tradition, die von Duke Ellington (»Take The A Train«) bis zu James Brown (»Night Train«) reicht. Vielleicht hat Afrika Bambaataa bei »Planet Rock« ja auch an diesen Aspekt gedacht und das Thema dann von der Schiene in den Weltraum gebracht.
»Die Mensch-Maschine« (1978)
DN: Die Band nun definitiv als »Musik-Maschine«. »Als Wesen und als Ûberding«, analog zu Warhols Idee einer »Mal-Maschine«. Interessanterweise fand der finale Soundmix bei Whitfield Records in Detroit statt, dem Label des afro-futuristischen Motown-Visionärs Norman Whitfield (The Temptations, The Undisputed Truth). Also schon hier »Afrogermanic« …
MG: Ihr wohl berühmtestes Cover ist wiederum vom sowjetrussischen Konstruktivismus beeinflusst. Wolfgang Flür erwähnte in der BBC-Doku »Synth Britannia« genau dieses Diskursfeld: Kraftwerk fühlten sich damals als »Engineer Musicians«. Also präsentieren sie sich konsequent durchdacht als Künstler-Ingenieure. Daraus könnte auch die Symbiose Künstler als »Ingenieure der menschlichen Seele« (Stalin) mit der Technikverliebtheit der Sowjetunion herbeiinterpretiert werden.
DN: Es geht aber auch wieder um Party: »Wir funktionieren auto-matik/Jetzt wollen wir tanzen mecha-nik«.
»Computerwelt« (1981)
DN: Ich glaube, das ist die erste Platte wo ich am Cover das Wort »Software« gelesen habe.
MG: Im selben Jahr wurde ja auch der erste PC (IBM) vorgestellt.
DN: Sie übertragen das Punk-Motto »Everybody can do it« bzw. die D.I.Y.-Ideologie und zeigen mit all den Spieglzeuginstrumenten die sie dabei verwenden auch gleich wie es geht. Den »Taschenrechner« hielten sie live ja ins Publikum, damit darauf herumgedrückt werden konnte. Das sagen ja auch Underground Resistance immer wieder: Kraftwerk brachten uns Technologie! Und die war nun erschwinglich.
MG: Diese Computersounds kommen allerdings zwei Jahre nach Y.M.O.s »Computer Game« auf die Plattenteller.
DN: Dafür gibt es durchgehend funky Dance-Tracks. Nur wenig später kam das alles als »transatlantischer Widerschein« (F.S.K.) bei Afrika Bambaataa oder Grandmaster Flash & The Furious Five (»Scorpio«) zurück. Bei »Nummern« deuten sich sowieso schon ihre einzigen legitimen Nachfolger Drexciya an.
»Electric Café« (1986)
DN: Die haben sie irgendwie vermurkst. Sie wollten unbedingt wieder allen voraus sein, nur kamen die Früchte von »Computerwelt« täglich frisch auf die Plattenteller und Kraftwerk waren plötzlich nicht mehr state-of-the-future-art.
MG: Dementsprechend hinterlässt die Inhomogenität der Platte den bleibendsten Eindruck. Bei allen Richtungen, in denen »Electric Café« wieder vorpreschen will, zerreißt es sich förmlich.
DN: Mir gefiel die digitale Electro-Kälte (die jedoch analog auf Tape aufgenommen wurde) immer schon, aber es gab auch extreme Aussetzer. Das alte Problem eben: Was tun, wenn die Revolution (»Elektroklänge überall«) eingetreten ist? Mittlerweile haben sie ja unter dem Titel »Musique Non-Stop« ihr eigenes Medley aus den besten Momenten der LP zusammengestellt.
Kraftwerk: »Der Katalog/The Catalogue« (8-CD-Box, Kling Klang/Mute/EMI)
» Klaus Totzler im Gespräch mit Ralf Hütter (2004)
Bei den Wiener Festwochen vom 15. bis zum 18. Mai 2014 stellen Kraftwerk mit der 3D-Konzertreihe »Der Katalog – 1 2 3 4 5 6 7 8« an vier Abenden jeweils zwei ihrer legendären Musikalben ins Zentrum. »details