Wien ist ein Zwei-Millionen-Einwohner*innen-Vorgarten. Nicht, dass wir es nicht so mögen würden. Alles geklärt, prima beschaulich, es gibt wenig (offene) Gewalt, ganz viel Ordnung, Sauberkeit und so Zeug, das einem ja doch auf den Geist gehen kann, wenn es fehlt. Eine große Stadt, die sich nicht entscheiden kann, Großstadt zu sein. Aber dann gibt es doch diese eine gewisse Straße, den Gürtel, der Mini-Metropolis spielt und die Stadt als groß erfahren lässt. Eine architektonische Spitzenidee aus dem 19. Jahrhundert: einfach die Stadtbahn hoch oben auf einem Viadukt über die Köpfe der Passant*innen rattern lassen, wenige Meter vor den Fenstern des ununterbrochenen Wohnhausprospekts vorbei. Hier kann, wer verschlafen auf dem Weg zur Arbeit aus dem Fenster starrt, in Küche oder Schlafzimmer glotzen und sieht vielleicht (mit Glück oder Pech) beim frühmorgendlichen, leicht angesoffenen Beischlaf zu und darf sich denken: »Na geh, I love my Orbeit eh.« Denn am Gürtel läuft zusammen, was die Stadt an Gelüsten und Genütztem zu bieten hat. Die Drogen, vor deren Dealer*innen sich auch schon mal der alte »Falter« fürchtet, die Gestrandeten, die Halbexistenzen, all das, was Wien versteckt und doch hervorkehren sollte, denn Stadt ist nicht sauber, pipifeines Vorzeigemilieu, sondern Sucht, Begehren und ratternde Züge, die zwischen Todeszone Vorstadt und kleinem, kurzen Himmelsglück Gürtel verkehren. Die endlosen Autoschlangen beleuchten mit ihren Frontscheinwerferaugen den nassen, schwarzen Asphalt wie einen Disko-Laufsteg, der die Straße schmückt, die am liebsten immer in Nacht gehüllt wäre.
Und nun die Frage, wer kann es wagen, dem Gürtel, auf dem angeblich die Sexarbeiter*innen einen reviermarkierenden Strich zogen (weshalb man später sprichwörtlich auf eben diesen ging), ein musikalisches Denkmal zu setzen? Den komplexesten Verkehrsraum Wiens zu porträtieren? Diese besondere Szene einzufangen? Denn wer kennt den Underground, wie seine eigene ungebügelte Hosentasche? Wer weiß, was die cleane Stadt wegsperrt und wem sie eigentlich eine Bühne bauen sollte? Richtig: Die Antwort lautet Soda Gomorra! Die Band, die den biblischen Sündenpfuhl schon im Namen trägt. Sie liefert uns ein filmisches Juwel (Regie Mikal Maldoror, Philipp Kerber hinterm Okular), das den Abend über den Schienensträngen zeigt, bis endlich die Unterpflasterstraßenbahn im Abgrund versinkt. »Warten auf den Nachtbus« geschieht in bester Gesellschaft. »Augustin«-Verkäufer, Sexarbeiter*in im billigen Fummel und zugedröhnte Exekutivbeamte, genau so wollen wir Wien sehen, denn das sind die wahren Sehenswürdigkeiten. Dazu ein Sound – muss man einfach gehört haben. Mikal Maldoror macht Buddy Rich auf Heavy Metal, Filip Rački, Tommy Jirku und der passionierte Radfahrer Thomas Wirthensohn bringen Elektrosounds und Bläserparts zu einer Soundwand zusammen, durch die die wichtigsten Infos (»Käsekrainer!«) durchknallen wie die Lautsprecherdurchsagen beim jüngsten Gericht. Vorgetragen mit der bombastischen Stimme von Aleksandar Marković, die Nahverkehrszüge zum Entgleisen bringt. Am Ende ist klar: Wir lieben den Gürtel und wir brauchen ihn und wir brauchen Soda Gomorra in dieser Stadt.
Letzte Durchsage: Wer sich für Verkehrsfragen aller Art interessiert, bleibe bitte auf diesem Kanal.