Fotos: Phil Sharp
Fotos: Phil Sharp

Um Leben und Tod, at last

Wire im Interview. Anlass: ihre aktuelle CD »Change Becomes Us« (Pinkflag/Cargo)

Es ist der Tag vor dem Abend, an dem der alte Mann mit dem schicken Cape ein letztes Mal in einen Hubschrauber klettern, sich kurz zuvor umdrehen, noch einmal eine charakteristische Geste machen und schließlich hinauf in den Himmel steigen wird, der Rente entgegen – die Post-Punk-Päpste von Wire sind davon offensichtlich noch weit entfernt. Colin Newman und Graham Lewis, Gründungsmitglieder der Band, laden zum Interviewtag. Berlin, Blick auf die Eastside Gallery, graue Mauer, kurz vorm Abriss. Da zuckt die Lust, sie Geschichten, Geschichte erzählen zu lassen. Eigentlich gilt es so einen Impuls zu unterdrücken, sind die Heldengeschichten des Pop doch eigentlich auserzählt. Andererseits veröffentlichen die Briten Ende März ein neues Album, das das Verhältnis von Gestern und Heute in gewisser Weise transzendiert: »Change Becomes Us« basiert auf Skizzen und fertigem Songmaterial, das 1979/1980 entstanden ist und eine Band dokumentiert, bei der künstlerische Höchstform und das Auseinanderbrechen als Band Hand in Hand gehen. Statt des vierten Albums, das den sonisch minimalen, wegweisenden Triumphzug von »Pink Flag«, »Missing Chairs« und »154« hätte fortsetzen können, gab es vor über 30 Jahren vorübergehendes Schweigen und eine Neuerfindung – wie später noch so oft bei Wire. Und heute: Reflektionen.

Nein, über das Gestern reden, aber sicher. Hier redet gerade jeder über gestern. Ûber die Stadtgrenzen hinaus ist das vielleicht nicht allzu spannend, aber was Berlin sich gerade an romantizistischer Nostalgie erlaubt, wird von Tag zu Tag absurder. David Bowies mittelmäßige neue Single war ja nur der Anfang, der Nick Cave rasch noch einmal inspirierte, über schlechtes Speed zu philosophieren. In der siffigen S-Bahn fallen immer häufiger Menschen in Ekstase, seit über Iggy Pops notorisches »The Passenger« kolportiert wurde, es verarbeite lange BVG-Touren zum Wannsee. Und über allem Wolfgang Müller – früher Mitglied der Tödlichen Doris und heute Elfenexperte, dessen »Subkultur Westberlin 1979?1989. Freizeit« auf 600 Seiten erklärt, wie Berlin der provinziellste Nabel der Welt wurde; und der nun immer mehr zum Chefinquisitor, zum Hüter der Einen Wahrheit der Zeit wird. Kurz, es gibt genug Grund, aus der Berlino-zentrischen Perspektive auszubrechen und einmal unabhängige Beobachter wie Wire zu befragen.

skug: Habt ihr überhaupt registriert, dass es eine Szene in West-Berlin gab, die, ähnlich wie ihr, Kunst, Punk und Theorie zusammen dachte?
Colin Newman
: Ja, Berlin war schon ein Ort für uns.
Graham Lewis: Es war transzendent! Ernsthaft: Als wir 1978 hier her kamen, das hat unser Leben verändert. Hier zu sein hat sich ganz natürlich angefühlt. Als wir dann nach London zurück gekommen sind, und jeder wissen wollte wie es denn war: Es war großartig! Dort war alles so langweilig.
CN: Berlin war ein merkwürdiger Ort. Ein Dampfdrucktopf. Es war verrückt, die Leute waren verrückt, die hatten alle Lagerkoller. Wie im Knast. Man konnte nirgendwohin gehen. Das zweite Mal, als wir hierhin [West-Berlin, Anm.] kamen, sind wir über den Korridor gekommen – das war wie eine Fahrt durch die Finsternis, und am Ende auf einmal: Licht! Ûberall lief ständig Fernsehen oder Radio, auch im Osten, und jemand wie Ronald Lippok von To Rococo Rot, den ich gut kenne, wuchs in Mitte auf und wusste alles über die britische Musikszene.
GL: Zu der Zeit hatte ja auch Alan Bangs seine Show hier. Was für uns wichtig war: Wir haben im Ratinger Hof in Düsseldorf gespielt, da hat Joseph Beuys immer getrunken! Wir kamen rein, schauten uns um und fragten uns: Was sind das denn hier für Leute? Und da saßen dann diese ganzen deutschen Künstler. Wir waren nicht wirklich so tief in Punk drin. Das hat also genau zu dem gepasst, was wir damals gemacht haben. Wir mochten die deutsche Musik der frühen Siebziger, damit sind wir aufgewachsen. Stockhausen hat gesagt: »Wenn du in Japan spielst, spielst du japanisch, und wenn du in Berlin bist …«. Unser Spiel hat sich hier verändert.
CN: Natürlich gab es – gibt es – eine ziemliche Ûberromantisierung von Berlin. Düsseldorf war in den Siebzigern näher an dem Punkt dran, an dem wir uns verorteten. Berlin war weniger Kunst, mehr Politik. Trotzdem: Das SO 36 war wirklich außerordentlich, die Einrichtung. Es hat die 80er vorweggenommen. Das hat nicht ausgesehen wie eine Bar, das hat ausgesehen wie ein Konzept.
GL: Zurück in London habe ich in einer Bar gesessen, in Covent Garden, das Gebiet war damals ja nicht zugänglich, da hingen die ganzen Künstler rum. Ich war im White Line, als Andy Czezowski, dem damals das Roxy gehört hat, reinkam, mich gefragt hat, wie Berlin war. Und ich habe ihm erzählt, dass im SO 36 nirgends zu sehen war, welche Getränke angeboten wurden – nur diese riesigen alten amerikanischen Kühlschränke aus den 50ern. Kurz darauf hatte Andy dann einen Club, der hieß The Fridge. So direkt waren da die Einflüsse.

Wire_25_FEB_2013_Phil_Sharp_2_kleiner.jpgDie beiden werfen sich die Anekdoten nur so zu. Man hofft in solchen Situationen, dass etwas ganz »Hunterthompsoneskes« passiert, aber dazu braucht es einen Hunter S. Thompson, und ich bin das nicht. So bleibt es hier beim gemütlichen Gespräch über entkoffeiniertem Kaffee mit, wie die »taz« einmal schrieb, einem »verdatterten Mathematiklehrer« (Newman) mit gedankenschnellem, oft etwas sprunghaftem und kaum zu verschriftlichendem Sprachfluss und »Wayne Rooneys Vater« (Lewis), der immer wieder in seinen Aussagen stockt, eher exakt spricht. Es geht um frühere Konzepte (Newman: »Wire war frei von Doktrin«) und die Verbindung von Kunst und Musik (Lewis: »Interessanterweise wollen immer mehr Künstler auch Musik machen. Die meistens sind darin allerdings nicht besonders gut«).

Wie wohl die meisten meiner Generation habe ich Wire zunächst über ihre Epigonen kennen gelernt. »Pink Flag« ist nicht das Album, über das man zufällig in der elterlichen Plattensammlung stolpert. Es waren eher Bands wie Franz Ferdinand, die, auch schon wieder ein Jahrzehnt her, den Einfluss von Wire deutlich hervorhoben. Zu der Zeit waren Wire selbst bereits nach einer längeren Pause in den 90ern wieder aktiv, aber gegenüber dem von jugendlicher Sexyness überquellenden Sound der »Class of 04/05« wirkten sie beinahe bedrohlich, harsch, unnahbar. Im Nachhinein betrachtet war es nur eine Saison, die diesen Bands vergönnt war, bevor sie sich entweder im eigenen Saft oder in ungut dosierter Elektronik ertränkten. Wire sind immer noch da. Und schließlich war es nicht das erste Mal, dass sich der heiße Scheiß relativ direkt aus Aspekten ihres Sounds ableitete: Schon der Spätachtziger-Dream-Pop hatte sein Ohr in die mittleren Wire-Releases versenkt, bevor er mit My Bloody Valentine und anderen selbst Musikgeschichte schrieb. Wie fühlt es sich aber an, wenn der eigene Sound nicht nur zum Vorbild für neue Musik wird, sondern, wenn man dann der Musik, die man selbst beeinflusste, gleich auch wieder beim Niedergang zusehen muss? Wenn man gleich doppelt aus der Mode gerät?

CN: Wenn man eben nur stumpf kopiert, wie soll das funktionieren? Das war in den 90ern ein riesiges Problem mit Brit Pop, der ganze Brit Pop konnte sich nur über andere Musik beschreiben. Oasis waren eine perfekt konstruierte Version der Beatles auf »heavy«. Aber: Worin liegt da die Herausforderung, wie weit kommt man schon mit so einem Konzept? Ich weiß, dass »Fortschritt« eine altmodische Idee ist, aber warum sollte jemand immer nur das machen, was er schon immer gemacht hat?
GL: Natürlich ist es zunächst einmal toll, wenn Menschen das wertschätzen, was man macht. Blablabla. Aber ich finde es spannender, wenn man das den Sachen nicht anhört. Denn das heißt, dass das eigene Werk funktioniert. Insofern als dass es benutzt wird, um daraus etwas total Neues zu machen, um eine neue Perspektive zu erhalten. Weißt du, was mich wirklich überrascht hat: Als ich zum ersten Mal gesehen habe, wie unser Name zum Adjektiv wurde, um andere Musik zu beschreiben.
CN: Das war schon früh, in den späten 70ern.

Aber euer Name war doch dafür prädestiniert, hattet ihr nicht auch beabsichtigt, dass man mit dem Namen spielen kann?
GL: Nein, das funktioniert doch auch mit fünf Wörtern im Namen. Man hängt einfach ein – ig hintendran. Klappt ziemlich gut.
CN: Wire-esk!

Wire-esk klingt aber definitiv besser als »Gangoffour-esk«.
GL: Das stimmt natürlich. Wir haben unseren Namen gewählt, gerade, weil er keine Assoziationen hervorruft.
CN: Es gibt ja die Theorie, dass es zwei Arten von Bands gibt: Die, die einen Artikel tragen, sind Gangs. Und die, die keinen Artikel tragen, sind eher »arty«. Wir waren »arty« und die waren eine Gang. Wire waren nie eine Gang.
GL: Es gibt diesen Satz von John Lennon, der sagt: »Die Beatles waren eine Gruppe, die Rolling Stones waren eine Gang«.
CN: Vielleicht. Vor allem aber disst John Lennon da die Rolling Stones.
GL: Trotzdem gut, oder? Schön auf den Punkt.

Wire_ChangeBecomesUsfrontcover.jpgWenn wir bei schon bei Pop-Theorien sind: Wenn ich über die Idee hinter eurem neuen Album nachdenke, dann erscheint es mir fast als »das Pop-Album an sich«, wenn man Pop so versteht, dass es nicht um Innovationen geht, sondern um die Perversion von Sachen, die es bereits gibt, die neu nutzbar gemacht werden, ohne sie zu reproduzieren. »Change Becomes Us« ist ein Pop-Album, auch wenn es anders klingt. Oder?
GL: Guter Punkt. Ich finde es sehr poppig.
CN: Das ein ganzes Album lang zu machen, als ein Konzept, das ist anders, aber im Grunde hat Wire immer so etwas gemacht. Es gibt so viele Altlasten, die nicht wirklich aufgelöst sind, die in Wires DNA liegen. Wir sind nicht gut im Loslassen. Die Stücke hier haben vorher einfach noch nicht ihre Form gefunden, die sie leben lässt. Sachen, die wir einmal live gemacht haben, die in meinem Kopf immer weiter gespielt haben. Es hat immer rumort, weil die irgendwo waren, und jetzt gibt es von denen eine endgültige Version. Wire ist keine Band, die allzu offensichtlich arbeitet. Wir kommen so oft an einen Punkt, von dem aus es spannend wird. Natürlich ist es in diesem Sinne Pop, aber das Ziel war das nicht, sondern ganz einfach: Was können wir mit diesem Material machen.

Warum mit genau diesem Material?
CN: Na, im Grunde weil es existiert. Und weil wir nichts damit gemacht haben. Wir hatten nach dem letzten Album zwei Möglichkeiten. Damals ist das so gelaufen: Songs schreiben, mit der Band ins Studio. Das ist kein guter Weg für Wire, weil es schwer ist, diese Momente zu kreieren, in denen etwas wirklich passiert. Graham hätte seine Texte geschrieben, ich meine Melodien, und dann hätte es neues Zeug gegeben. Wenn ich Graham sage: Ich brauche am Montag 20 Stücke, dann klappt das. Aber wir wollten etwas anderes.
GL: Das ist das Material, das unser viertes Album hätte werden sollen. Und es lag da einfach rum. Weil wir nichts damit gemacht haben. Es war tot, ein Artefakt, aber es hat uns schon immer im Hinterkopf einigen Druck gemacht. Wir waren kurz vor der Auflösung, als wir es eingespielt haben, wir haben es liegen gelassen und sind weggerannt. Manchmal haben wir Fetzen davon verarbeitet, aber erst als unser neuer Gitarrist Matt Simms 2011 dazukam und unser Sound sich weiter veränderte, merkten wir, dass es an der Zeit ist, etwas anzustellen mit dieser nicht zu Ende gebrachten Geschichte. Normalerweise, wenn man sich solchem Material hingibt, endet das als Lüge, denn es hat eine eigene Struktur, Logik, Harmonien, eine Atmosphäre, die nichts mehr mit dir zu tun hat.

Wie geht man mit den Songtexten um, die ja auch so alt sind?
GL: Es gab Texte, die gut waren, anderes habe ich eher spontan geschrieben, als Platzhalter, um die Musik zu untermalen, ohne dass es viel damit zu tun zu hatte. Als ich dann angefangen habe, die Texte wirklich durchzuarbeiten … Manches ist einfach mit Erinnerung verbunden, fast dokumentarisch. Vieles ist so, dass ich im Rückblick denke: Es ist alles viel schlimmer gekommen, als ich gedacht habe, und das musste natürlich in der Arbeit reflektiert werden. Und dann nimm den Song »Underwater Experience« von 1978. Damals dachte ich: Das Beste, das ich je geschrieben habe. Heute erscheint es mir als nicht gut genug. Wir haben uns verändert. Ûber Leben und Tod zu schreiben ist nicht einfach, wenn es nicht oberflächlich sein soll.
CN: Wir sind 1978 mit dem Stück wirklich spektakulär gescheitert. Erst eine neue Version mit gleichem Text aber völlig anderer Musik, erst dieses neue Stück konnte das alte befreien.
GL: Ich habe wirklich hart daran gearbeitet. Aber ich wusste: Es muss etwas geschehen. Dann bin ich vorletztes Jahr im Sommer mit meiner Familie in der Peripherie von Oslo durch einen heftigen Sturm gefahren, ziemlich schnell, über 100 km/h, im dichten Verkehr, viele LKWs. Und es hat so stark geregnet, man konnte kaum etwas sehen. Ein Stoßdämpfer ist gebrochen. Alles wurde laut. Und dann passierte ein Wunder: Das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist dass wir stehen. Für mich als Texter war das ein Geschenk, weil ich in den nächsten Tagen tatsächlich viel über Leben und Tod nachdachte.

Hättest du das früher gedacht, dass du einmal ganz ohne Ironie über Leben und Tod schreiben würdest?
CN: Ich wurde katholisch erzogen, da geht es von Anfang an immer um Leben und Tod.

Ein Blick in die Zukunft zum Schluss: Was fehlt noch in der Wire-Diskographie, welche Art von Musik sollte es noch von euch geben?
CN: Ich stecke gerade tief in Techno.

Wirklich?
CN: Ja! Aber vielleicht auch nur, weil ich in Berlin bin …

Das wäre in der Tat das erste Mal, dass Wire ihren Epigonen hinterherliefen – wenn es dazu kommen würde. Erst kommt wohl, lässt Newman wissen, »Read & Burn – 04«, das die EP-Serie des letzten Jahrzehnts fortsetzt. Experimentell, natürlich. »Change Becomes Us« jedenfalls: Früh-Pink Floyd für’s utopische Ûber-Detroit und andere unwirtliche Regionen, lieblich zischelnd und monumental schroff. Und sehr wire-esk. Die Sedivakanz des Post-Post-Punk wird auf sich warten lassen.

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