In James Joyces »Stephen Hero« wundert sich der Protagonist über das Stadtmobiliar Dublins. Es erscheint ihm in einer eigentümlichen, nicht leicht zu entschlüsselnden Gleichgültigkeit. Ein wenig so, als würden all die Dinge, die die Stadt ausmachen, von der Turmuhr bis zum Brückengeländer, gar nicht wirklich existieren. Sie sind sichtbar und unsichtbar zugleich. Ein Wiedererkennen des Objektes führt nicht zur Erkenntnis des Gegenstandes, sondern zum reinen Verbuchen des Nicht-Faktums, dass alles so ist, wie es bekannt ist. Eine anspruchsvolle Erfahrung des Stadtraums hingegen würde etwas beinhalten das Joyce »Epiphanien« nennt. Die haben allerdings besondere literarisch-philosophische Voraussetzungen, dass sie weitgehend nur für Romanfiguren von Interesse sind.
Nur, der Anspruch der Kunst läge vermutlich genau darin. Objekte sollen aus ihrer alltäglichen Belanglosigkeit herausgerissen werden, um sie in eine besondere Sichtbarkeit zu überführen. Früher hätte man diese vielleicht einmal als »höherweltlich« interpretiert, unter den Gegebenheiten der Moderne spricht man lieber von »nackter« Erscheinung. Anders gesagt: Plötzlich steht das Ding vor uns, das immer nur bedeutungsloser Alltagsgegenstand war. Damit einher geht ein Wandel der Erscheinungswelt, der zugleich das Leben der Betrachtenden zu ändern vermag. Na bumm, ein turmhoher, ästhetischer Anspruch wäre formuliert. Jeder Gang durch die Stadt Wien zeigt, wie verwegen Hoffnungen dieser Art sind.
Wollen wir was erhören?
Wien ist angefüllt mit mehr oder minder gut verhübschten Zweckobjekten (wie sollte es anders sein, die Menschen haben zu stillende Bedürfnisse) und Skulpturen, die in den meisten Fällen von umwerfender Hässlichkeit sind. Maria Theresia, am Platz gleichen Namens, hat ein übellauniges Mondgesicht, dem jemand die Nase wie die Mohrrübe einer Vogelscheuche unter die blödsinnigen Augen gestopft hat. Sie »thront« auf einem Sockel, umgeben von Generälen auf Pferden, die – selbstverständlich, typisch Habsburg – jeder in eine andere Richtung ziehen. Alles ist in grünem Kupferschimmel abgesoffen. Welche Empfindungen können Betrachter*innen gegenüber der Skulptur gewinnen? Vor Ehrfurcht niederknien? Hat dies je wer getan?
Schlimmer noch. Die meisten Skulpturen mögen heute vielleicht unverständlich dem Geschmack ihrer Zeit verbunden sein und Repräsentationsbedürfnisse verflossener Reiche und verstorbener Herrscher*innen erfüllen, nur die Skulptur im öffentlichen Raum, wenn sie moderne Spielarten beinhaltet, will doch sicherlich »bewegen«. Der apollinische Blick der Passant*innen macht da leider nicht mit. Statt horizontal vor lauter »Schock« über der Straße zu schweben, ist alles sogleich »erkannt«. Niemand weiß, was es genau ist, oder was es soll, aber es ist klar, dass es eines »von diesen Kunstdingern« ist. Eine Irritation wird allzu leicht ausgefiltert und ist erlebbar einzig für jene, die sich dem unbedingt aussetzen wollen, vielleicht mit einem Reclam-Heftchen von Carl Einstein (sehr lesenswert!) in der Sakkotasche.
Die Klangskulptur duldet dies nicht. Bei ihr gibt es kein Entkommen. Sie bietet dem apollinischen Sehen wenig bis nichts, raubt aber dem dionysischen Hören die Ruhe. Ich höre, aber verstehe nicht, weil das Angehörte nur im Wiedererkennen bekannt sein kann. Wer nachts einen vorbeifahrenden LKW »erkennt«, erkennt ihn nur deshalb wieder, weil Klang und Form gemeinsam auf der Straße erlebt wurden. Ohne »Anschauung« des klangverursachenden LKWs wäre das Geräusch ein völlig unverständliches, kakophonisches Durcheinander und vermutlich sehr beunruhigend. Deswegen ist der Klang, allein und objektlos in den öffentlichen Raum emittiert, immer ein wenig beunruhigend und dadurch bewegend. Durchaus in einer Weise, die nicht von allen Passant*innen gern gehört und gesehen wird.
Versammelt rund um die Pestsäule
Benoît Maubrey macht sich genau dies zunutze. »Streamers – a Covid Sculpture« ist äußerlich ein Nachbau der Wiener Pestsäule. Die überkommene Form einer Repräsentationstele, die dem Herrscher für den Sieg über die damalige Pest-Pandemie danken sollte (und ein bisschen auch dem lieben Gott), wird ironisierend aus alten Radio- und HiFi-Geräten nachgebaut. Deren tieferer Sinn ist nicht ihre visuelle Form, sondern dass sie tönen. Die Skulptur mag hoch und imposant sein, an ihr kann vorbeigestapft werden, wie an dem nochmals höheren Tegetthoff-Denkmal wenige hundert Meter entfernt am anderen »Ende« des Pratersternrunds. Aber – aus den unzähligen Lautsprechern der Covid-Sulpture erklingt immer wieder ein Aufruf.
Die Lautsprechermembranen sind seit Monaten mit dem Internet verbunden. Aus ihnen strömen Botschaften, ohne Kontext vermittelt. Wer will, ruft die Skulptur an und quasselt drauf los oder verliest ein Pamphlet – je nachdem. Oder spielt seine selbst entworfene DJ-Line über die Boxen. Wer vorbeigeht, muss dann hören. Mag sein, die Passant*innen sind genervt, weil sie auf der Jagd nach dem »Klang der Stille« sind, nachdem sich viele in der lärmenden Stadt sehnen. Andere Flaneur*innen ergreift’s und sie ergreifen die Chance. Maubrey hat eine Art Telefonzelle gebaut, in der der Hörer nicht in die Gabel gehängt wurde und aus der Hörmuschel redet wer. Warum nicht den Hörer nehmen und antworten? Plötzlich interagieren wir im öffentlichen Raum, ungesteuert und überraschend. Plötzlich ist da wieder ein Kommunikationsraum, den die Stadt sonst kaum ermöglicht, weil sie beinahe nur Funktionsräume zuweist. Hier kann ein Kunstwerk machen, was es machen soll: Bekannten Weltbestand neu sichtbar werden lassen: »Entschuldigung, ist da wer?«
Maubreys Säule wird aber auch zu Konzerten eingesetzt. Dann durchdringen plötzlich ein digitales Störgeräusch und eine kreischende Violine, wie aus dem Horrorfilm, den Raum. Das ist das Gegenteil von Fahrstuhlmusikbeschallung, jener Muzak, die uns alle beschwichtigen soll und die mitunter in den öffentlichen Raum hinausdiffundiert, ohne dass es wer so recht merkt. Hier ist alles Schock und Dissonanz und Nervenreiz. Und genau diese Möglichkeiten von Klang- und Soundkunst im öffentlichen Raum, ihre besonderen Möglichkeiten und Limitierungen und was diese für die mögliche Stiftung eines öffentlichen Raumes bedeuten, werden wir im skug Talk mit der Raumforscherin Sabine Knierbein (angefragt), dem Sound-Kurator Georg Weckwerth, dem Bezirksvorsteher Alexander Nikolai und der Soundkünstlerin Marie Vermont diskutieren. Alles ab 15:30 Uhr, am Tag der Arbeit und in Wien.
Danach wird die Skulptur in einer Weise mit Livemusik gefüllt, dass skug voller Bewunderung konstatieren möchte, wie gut der Verein TONSPUR kuratiert:
17:00 Angélica Castelló/Burkhard Stangl (live)
17:45 Peter Kutin (live)
18:30 Christian Fennesz (live)
19:15 Special guest: Scanner (live variant of TOGETHER…/TONSPUR for Ukraine)
20:00 Franz Hautzinger (telephone call plus subsequent recording of the pre-recorded improvisation on the national anthem of Ukraine on the trumpet)
Davor (ab 14:00 Uhr), dazwischen und danach (bis 22:00 Uhr) spielt die Salon skug DJ-Line, damit auch wirklich nie Ruhe ist bei der Säule. Unbedingt vorbeischauen, anhören und vielleicht sogar mitdiskutieren.
Link: TONSPUR_festival