Reinhold Friedl © Anna Breit
Reinhold Friedl © Anna Breit

Sonische Erschütterungen in der Nordbahnhalle

Das Unsafe+Sounds Festival in Wien lädt Künstler*innen ein, an verschiedenen Venues der Stadt zur verstörten und verstörenden Gegenwart die passenden, zeitgenössischen Soundtracks zu finden. Herausragend am 3. Oktober zum Thema »Sonic Concussions«: Reinhold Friedl in der Nordbahnhalle.

Vom Praterstern in Richtung S-Bahnstation Traisengasse zogen sich einst die Schienenstränge des Nordbahnhofs. Zunächst spaziert man am Neubauviertel entlang und kurz vor der Nordbahnhalle, von der nicht nur der denkmalgeschützte Backsteinturm erhalten werden sollte, sind dann Baugruben ausgehoben. Eine Umrundung der Halle in dieser großartigen Stadtbrache offenbart zwei große, braune Feldhasen, die im hohen Gras verschwinden. Ein professioneller Bogenschütze erlegte am Tag zuvor nicht die prächtigen Stadttiere, sondern ein Violoncello und wurde dem Tagesmotto »Corpus« in Georg Nussbaumers »No Lovelinoise A Wound Her Swan’s« gerecht, indem Dutzende seiner Pfeile das Musikinstrument durchbohrten. An einer Tafel befestigt ist es nun ein cooles Ausstellungstück, wie auch Peter Kutins »Torso« einer Klangwindmühle. Schade, dass diese Klanginstallation nur am Eröffnungstag zu erleben war. Kutins »Antifascist Klapotetz« will politisch erzeugte Angst mit einem rotierenden Lautsprechersystem verscheuchen: ein ungleicher, Don-Quichotesker Kampf.

Jessica Ekomane © Anna Breit

Pita alias Peter Rehberg eröffnet den Reigen. Nicht wie erwartet mit rabaukischem Noise, sondern durchaus diffizil und wohldurchdacht gelingt sein Set. Extrem hohe, dissonante Frequenzen bedingen allerdings, dass sich ein Großteil des Publikums, darunter die Rezensenten, vorübergehend die Ohren zuhalten müssen. Die sonischen Erschütterungen dieses Abends sind durchaus unterschiedlicher Natur. Jessica Ekomane überrascht etwa mit einem breit angelegten, gewaltigen Drone-Klangraum, der sich auf einem furios-rhythmischen Beats-Kugellager grandios entfalten kann. Etwas enttäuschend, oder war es der Müdigkeit zu später Stunde geschuldet, gestaltet sich das Set von Tsembla alias Marja Ahti. Sie verwebt u. a. Field Recordings, Synthesizer-Sounds und elektronisches Feedback zu Texturen, die wohl aufmerksameres Zuhören abverlangen.

Man wundert sich, dass das Klavier am Ende nicht brennt
Reinhold Friedl ist vielleicht bekannt als Initiator und Teil des zeitkratzer-Kollektivs, welches Musik von Komponisten wie Stockhausen, Xenakis oder Schönberg interpretiert und mit aktuellsten Künstler*innen der musikalischen Avantgarde (u. a. Keiji Haino, Carsten Nicolai, Merzbow, Lee Ranaldo, Phill Niblock und Lou Reed) kollaboriert hat. Dabei werden wunderliche Klangkonstrukte erstellt, die neben komponiertem Noise und gelebter Atonalität vor allem durch höchste Musikalität und Kreativität beeindrucken. Neuestes Machwerk des Kollektivs ist »Serbian War Songs« (2017, Karlrecords), welches nur eine von vielen Neuinterpretationen volkstümlicher Musik von zeitkratzer darstellt. Da ertönen brachiale Klangwände neben Chorgesang und stellen dem Zarten einen brachialen Gegenpart bei. Diese eindrucksvolle, die Geschichten bebildernde Maßnahme dient auch als Unterstützung des Gesangs und der Geschichten, die erzählt werden.

Reinhold Friedl © Anna Breit

Nicht immer ist das so zugänglich wie bei »Serbian War Songs«. So vielfältig die Einflüsse sind, so unterschiedlich ist auch das, was dabei herauskommt. Ganz besonders ist der Sound von Pianist Reinhold Friedl. Dieser beschäftigt sich vor allem mit dem Innenleben seines Instruments. Sein Hintergrund (Studium der Mathematik und Musikwissenschaften) lässt vielleicht kopflastige Kunstmusik befürchten, in seiner etwa einstündigen Soloperformance am Tag der Deutschen Einheit in der Wiener Nordbahnhalle zeigte er jedoch das Gegenteil und sorgte für Begeisterung. Zwar benutzt er auch die Tasten des Klaviers, doch meist steht er nach vorne übergelehnt und operiert wie Dr. Bibber mit seinem Metallinstrumentarium geschickt auf den Saiten des geöffneten Klaviers. Man hört ihm seine jahrelange Beschäftigung mit der Klangkunst an. Bei der Handvoll Stücke, im Zuge derer er sämtliche Möglichkeiten des Innenlebens seines Klaviers mit Manipulation der Spiralen, Metallteile usw. nutzt, weiß er diese Erfahrung auch umzusetzen, indem er eine elektroakustische Klaviermusikmischung voller anarchischer, zärtlicher Gewalt schmettert. Gekonnt und zielsicher durch jahrelange Erfahrung in Improvisation und Live-Auftritten. Spektakulär, gewaltig, als er mit den Fäusten so laut in die Tasten haut, dass sich die ohnehin schon lädierten Trommelfelle der Anwesenden konvex wegdehnen. Auf dem Klavier herumspielen und darauf einhämmern kann jeder. Doch Friedl gelingt es, statt Krach Poesie zu schaffen. Und, was ernste Gesichter wundern wird: Es geht ihm auch um Spaß. Nachdem er die freudigen Zusehenden aus dem Korpus aus Tönen wieder entlassen hat, strahlt er ein Riesengrinsen aus.

Link: https://unsafeandsounds.com/

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