© David Baum
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»Sie hat den Kickl gewählt, ich nicht«

Über Blitzableiter, Schuldgefühle und Lobau-Aktien. Ein Rundgang in Ottakring am Abend der Nationalratswahl am 29. September 2024.

»Ich bin sicher. Ich habe die Staatsbürgerschaft«, lächelt ein Jugendlicher, der vor dem Ottakringer Jugendzentrum auf einer Bank sitzt und raucht. Gerade sind die Ergebnisse der Nationalratswahl online abrufbar. »Kennen wir«, sagt sein Freund, als ich mich frage, ob die älteren Damen, die gerne gegen die Großfamilien aus anderen Ländern wettern, eventuell einsam sind und sich alleine fühlen, und nun für die »Familie FPÖ« stimmten? In der Bäckerei vor dem Krankenhaus, die auch am Sonntag geöffnet hat, werkt ein Junge, der wie in Trance aussieht. Wer weiß, wie lange er hier schon die Stellung hält. »Es tut mir leid, ich kenne mich nicht aus mit der Wahl«, sagt dieser Verkäufer und wischt sich über die Augen, bevor er kurz vor 18:00 Uhr noch einen Kaffee auf die Theke stellt. Weitere Kunden drängen herein. Es sieht nicht so aus, als ob er pünktlich Schluss machen kann. Dem Akzent nach ist der junge Mann Pole oder Ukrainer. »Vielleicht ist es besser so, wenn Kickl gewinnt«, sagt ein alter Flohmarkthändler und nimmt einen Schluck aus seiner Wodkaflasche. »Denn wir wurden auch von der NATO bombardiert!« Der alte Jugoslawe und seit circa dreißig Jahren Serbe verehrt den Kriegsführer Milošević bis heute. Strache mochte die frischgebackenen Serben sehr gerne.

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Gegen die Eltern-Eliten

Im Fernsehen ist ein boshaftes Lachen zu sehen, als eine junge Frau, die mit ihrer Mutter unterwegs ist und in einer komplett ausländerfreien Stadt wohnt, gefragt wird, warum sie die Freiheitlichen wählte. »Die Ausländer werden bevorzugt«, behauptet sie. »Wir haben selber nichts und die kriegen alles.« Müde und erschöpft sieht die junge Frau mit schwarzer Lederjacke aus. Ihre flotte Mutter nickt eifrig. Sie scheint diesen offiziell geförderten Blitzableiter für die Lebensfrustrationen ihrer Tochter zu bevorzugen, sonst könnte sie ja wohl selber einmal etwas abkriegen – auf ihr frisch onduliertes Haupt. Die Mutter strahlt. Bruder und Schwester Ausländer werden von den »Eliten«, was doch wirklich so ähnlich wie Eltern klingt, angeblich bevorzugt. Die armen alten österreichischen Kinder bleiben auf der Strecke?

In der Großstadt Wien kann man hingegen nonstop Männer aus anderen Ländern dabei beobachten, wie sie eifrig bei jedem Wetter hackeln. Selbst ältere Männer, die mühsam Schubkarren voller Erde schieben, um die nicht vorhandenen Fundamente der Häuser, die durch den U-Bahn-Bau gefährdet sein könnten, abzusichern. Daneben, im Gastgarten am Rande einer vielbefahrenen Straße, lauter Österreicher, die schon in der Früh Bier trinken, Zigaretten rauchen und auf »die Fremden« schimpfen. Manchmal kommt es einem so vor, als ob diese Menschen auf diese Weise mögliche Schuldgefühle ob der eigenen Untätigkeit im Keim ersticken wollten. Täglich müssen diese armen Jogginghosenträger die fleißigen »Fremden« neben ihrem Gastgarten betrachten.

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Solidarität mit der Nichte

Dieses seltsame boshafte Lachen erscheint auch auf dem Gesicht einer Frau vor der Bäckerei. »Sie hat den Kickl gewählt, ich nicht«, erklärt ihr rundlicher, freundlicher Mann, bevor er von seiner blinden Nichte schwärmt, die sogar kleine Reparaturen selber erledige. »Ich habe sie angerufen, ob ich kommen soll, weil etwas hin ist, aber sie meinte, sie schafft das schon. Wir haben ihr unsere alte Wohnung gegeben.« Es stellt sich heraus, dass das Motiv dafür, die Freiheitlichen zu wählen, der Umstand war, dass die blinde Nichte jedes Jahr neu um Mindestsicherung ansuchen muss. »Als ob sie plötzlich wieder sehen könnte«, schüttelt der Mann verärgert den Kopf. Und Kickl wird diesen Umstand ändern? »Er hat versprochen, dass nur noch Inländer Mindestsicherung bekommen«, hofft die Frau.

Dann regt sich die Frau wortreich über Lena Schilling auf, die noch nie im Leben etwas gearbeitet hätte. »Aber sie war doch die Sprecherin der Lobau-Bewegung«, sage ich. »Diese Kids haben eine anstrengende Besetzung durchgehalten und es ist doch gut, dass sich die Jungen engagieren.« Die Frau hört mit ihrem überlegenen Lachen auf. »Wir haben damals, als Günter Nenning im Fernsehen Lobau-Aktien verkaufte, auch welche gekauft, um die Lobau zu retten«, erklärt der Mann. »Das hat auch geklappt. Aber wir wissen nicht, wo unser Land liegt und wie viel sie heute wert sind.« Dann haben es beide plötzlich sehr eilig.

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