Die Geschichte von Tocotronic habe auch in Wien ihren Anfang genommen, schwelgt Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow zwischen zwei Liedern, denn das erste Österreich-Konzert habe man 1994 im Wiener Art Club gespielt. Das Sinnieren über den eigenen Werdegang, so merkt man an dieser Stelle, ist das zentrale Topos von Tocotronic im Jahre 2018. Mit dem im Jänner veröffentlichten Konzeptalbum »Die Unendlichkeit« versetzt sich die Band – allen voran von Lowtzow – in die früheste Phase ihres Schaffens, in die Zeit der eigenen Adoleszenz, der Flucht aus der »Schwarzwaldhölle« und der bald darauf folgenden Grundsteinlegung für die sogenannte Hamburger Schule – als »Eliteschule« besang von Lowtzow diese einst, und wahrlich, Tocotronic sind nach wie vor Meister ihres Fachs. »Die Unendlichkeit« lotet das weite Erfahrungsspektrum zwischen Teenage Angst und Teenage Riot aus, und zwar auf eine Weise, wie es jedem ernst gemeinten autobiografischen Rekurs gelingen sollte: nicht als bloße Selbstreferenz, sondern als Vertonung der größeren Zusammenhänge, denen sich das Individuum ausgesetzt sieht.
Einmal Unendlichkeit und zurück
Nach einem Vierteljahrhundert, in dem Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail insgesamt zwölf Alben eingespielt haben, hat man als eingesessener Tocotronic-Sympathisant mittlerweile »die Gewissheit, dass uns nichts mehr trennen kann«, um eine Zeile aus dem Opener der neuesten Platte zu zitieren. Und doch braucht es erfahrungsgemäß bei jeder Neuveröffentlichung der Band eine gewisse Einfindungsphase. Im Falle von »Die Unendlichkeit« gibt es solche Nummern wie »Electric Guitar«, die sofort zünden, und solche wie »Hey Du«, bei denen man sich erstmal fragt: Ernsthaft? Allerdings dauert es meist nicht zu lange, bis man das Neue lieb gewonnen hat und dessen Stellung und Relevanz im Gesamtwerk der Band einordnen kann. Das Spezielle an »Die Unendlichkeit« etwa ist neben einer Erweiterung des Sound-Repertoires (vom intensiven Einsatz von Orchester-Arrangements bis zu Philip-Glass-Zitaten am Xylophon) die Wiederentdeckung einer Eindeutigkeit, die von den frühen Hymnen wie »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« bis zu späteren, am Agitp(r)op angelehnten Stücken wie »Sag alles ab« zwar immer irgendwo vorhanden war, aber im tocotronischen Werk seit den 2000ern zumeist von abstrahiertem Diskurspop überlagert wurde. Auf dem letztlich vortrefflichen »Die Unendlichkeit« begeben sich die Texte nun also wieder auf eine konkretere Ebene; man wolle nicht in einem Elfenbeinturm verweilen, hieß es seitens der Band.
Das Resultat dieses Vorsatzes ließ sich am Samstagabend des 28. Juli auf der Open-Air-Stage der Arena begutachten. Zum Einstieg wurden zwei Highlights des 2018er-Albums – der bereits zitierte Song »Die Unendlichkeit« und die ebenfalls schon erwähnte Prefab-Sprout-Reminiszenz »Electric Guitar« – und anschließend mit »Let there be Rock« ein altbewährter und stets beherzigter Motto-Song der Band aufgetischt. Als von Lowtzow sich bei »Kapitulation« bemühte, ausdruckstänzerisch ein K darzustellen, nahm das Publikum die Aufforderung zum Tanz gerne an, auch wenn niemand sichtlich von Lowtzows Beispiel folgte und den Körper zur Buchstabenform verrenkte. Ansonsten gab es als Kostproben des neuesten Albums die Nummern »Hey Du« und »Unwiederbringlich«. Letzteres avancierte zu einem ruhigen, aber eingehenden Höhepunkt: Von Lowtzow formte aus der eigentlich durchaus orchestralen Komposition eine gefühlvolle Soloballade, die er auf der E-Gitarre begleitend mit besonderer Hingabe sang (wobei man vielleicht wissen muss, dass das Lied eine Elegie auf einen früh verstorbenen Freund und ehemaligen Tourmanager der Band ist).
In der Hitze der Nacht gibt es Zucker für die Ohren
Der Rest des Sets und die für ein solches Open-Air-Konzert perfekte Sommernachtsatmosphäre machte es dem Publikum leicht, in Verzückung zu geraten. Und wenn es nicht sowieso schon 28 Grad bei 70 Prozent Luftfeuchte gehabt hätte, wären die meisten BesucherInnen nicht mehr aus dem Schwitzen herausgekommen. Denn Tocotronic lieferten größtenteils ihre Classic Hits – von denen sie ja schier unzählige haben. So sorgten das mit einer Protestrede gegen Österreichs stramm rechte Regierungstruppe eingeleitete »Aber hier leben, nein danke« oder Evergreens aus der Sturm-und-Drang-Ära wie »Letztes Jahr im Sommer« oder »Drüben auf dem Hügel« für viel Euphorie, hohen Mitsingfaktor und hinter Hornbrillen funkelnde Augen.
Dass an diesem Abend so gut wie alles zusammenpasste, lag vielleicht auch daran, dass Tocotronic bei ihren Konzerten mittlerweile auf einen Ablauf setzen, von dem sie wissen, dass er zweifelsfrei funktioniert. An ihren Sets haben sie in den letzten Jahren nur sehr wenig geschraubt, selbst die abrundenden Details sind die gleichen: Sergej Prokofjews »Rittertanz« bildet die Untermalung zum Bühnenaufstieg, es folgen eine etwas mehr als 90-minütige Präsentation von ausgewählten Stücken des jeweils aktuellen Albums und jenen Gassenhauern, die über zahlreiche Tourneen hinweg das Gerüst eines jeden Auftritts bilden, dann als vermeintlich letzte Zugabe »Freiburg« und schließlich tönt Ingrid Cavens »Die großen weißen Vögel« aus den Lautsprecherboxen, während die Band sich hinter der Bühne für ein wirklich definitives Encore bereithält. Aber letztlich erwartet ja auch niemand, dass Tocotronic sich heutzutage primär über die Live-Performance definieren oder sich auf der Bühne gar nochmals neu erfinden. Mag das Überraschungsmoment also auch etwas kurz kommen, bietet die Band dagegen große Hingabe, selbstironischen Pathos sowie viel Herzlichkeit und Charisma. Tocotronic wissen eben, dass gerade dieser Tage jeder Mensch ein wenig Zucker für Ohr und Herz braucht. Ihn zu verteilen, ist die Intention ihrer Konzerte.