Unter dem Titel »Zukunft ohne Zukunft. Die Gespenster des Neoliberalismus bei Mark Fishers ›k-punk‹« ist vor einiger Zeit in der »Jungle World« der erste Teil einer genaueren Beschäftigung mit dem Wirken und Denken von Mark Fisher anlässlich der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe von »k-punk: Ausgewählte Schriften 2004–2016« (Critica Diabolis/Edition Tiamat) erschienen. Bezugnehmend auf Fishers Idee eines »Acid Communism« verweist Uli Krug dabei im Text auf einen nicht unwichtigen, auch das Themengefüge »Retromania« betreffenden Umstand (der bei Fisher gar nicht mal so explizit erwähnt wird). Krug schreibt: »Sein Gespür für das, was heute fehlt, worüber nicht gesprochen wird, was verpönt ist, treibt ihn dabei gar nicht so sehr in die Sechziger, sondern tatsächlich in jene Zeit, die nicht umsonst noch bei jeder Retrowelle und jeder Rückschau höchst stiefmütterlich behandelt wird – jene verdrängten Jahre zwischen Woodstock und Disco, Wassermann und Punk.« Jene Jahre also, die beim Nachgoogeln scheinbar voll mit buntesten Tapeten, Kleidungsstücken und jeder Menge »Smiley«-Anhängern sind, einem in der Erinnerung (oder bei Rolf-Dieter Brinkmann) aber dann doch eher grau, braun, beige und stets mit einem Milchglashimmel bedeckt vorkommen. Schauen wir uns das einmal genauer an.
Slacker Things
Aktuelle 80s-Nostalgia-Vehikel wie »Stranger Things« zeigen uns dann auch eine Welt nach Punk/Post-Punk und vor Grunge/Rave (exklusive HipHop, House/Techno, Metal), die sich dabei aber auch radikal vom (anti-selbstoptimierenden) »Slacker«-Blick der 1990er auf die Seventies unterscheidet. So schreibt der US-amerikanische Regisseur Richard Linklater im Buch zu seinem 1993er-Film (über die späten 1970er): »Dazed and Confused« gleich im Vorwort davon, wie wenig sich hier ein Blick zurück für auch nur einen Anflug von Nostalgie eignet: »I’m glad as teenagers we were aware that the time we were living in sucked.« Dieses Bewusstsein, »that the time we were living in sucked«, fehlt bei »Stranger Things« komplett. Das liegt nicht nur daran, dass Teenager die Welt anders wahrnehmen als Kinder. Es liegt vor allem daran, wie diese Zeit später rezipiert wird.
Wie Stephen King blickt auch Linklater als Erwachsener (Adult) durchaus mit Groll und Zorn auf jene Traumata zurück, die sich zwischen Kindsein und Teenage ereignet haben (selbst Steven Spielberg und Robert »Back To The Future« Zemeckis kriegen das gelegentlich als Side-Effect postmoderner Rahmenbedingungen hin), wohingegen die 1984 geborenen Macher von »Stranger Things« die Eighties so sehen (und darstellen), als wären sie immer noch (untraumatisierte) Kinder in einem hippen Zauberland, welches halt hin und wieder von Monstern und/oder »den Russen« heimgesucht wird, wo aber sonst alles so schön und bunt ist, wie es die Werbung verspricht (wüssten wir es nicht besser, könnten wird »Stranger Things« auch als anti-kapitalistische Serie vulgärmarxistischer Cold-War-Propaganda ansehen). Wenn Linklater noch sagt »High School is a light prison sentence to be served. Once you paroled, you don’t look back«, dann postuliert »Stranger Things« genau das Gegenteil: Schau zurück und habʼ Spaß beim Nachsitzen (und mit all den tollen Dingen, die dir Thatcher und Reagan versprochen haben).
Acid Communism
In »Acid Communism« definiert Fisher den Neoliberalismus vor allem auch als »ein Projekt, dass das Ziel hatte, die demokratisch-sozialistischen und libertär-kommunistischen Experimente zu zerstören, die Ende der Sechziger und zu Beginn der Siebziger-Jahre aufgeblüht sind –, und zwar soweit zu zerstören, dass sie undenkbar wurden.« So verwundert auch all das Daherreden einer »konservativen Revolution« (als gleichsam »bürgerliche« Querfront zwischen AfD, CDU/CSU bzw. ÖVP und FPÖ) wenig, geht es doch darum, »68« (und alles, was daraus entstanden und damit verbunden ist) endgültig zu eliminieren. Deshalb auch all die Angriffe auf Minderheitenrechte und auf alles mit »gender« bzw. die Menschenrechte an sich. Als »Erbe von 68« muss das ebenso weg wie die »Erinnerungskultur« (auch so ein Trauma der national-konservativen »rohen Bürgerlichkeit«).
Jetzt wundert sich Fisher jedoch zuerst auch selber, wieso er (als durch Punk sozialisiert und politisiert) plötzlich scheinbar eine Art Altersmilde für zuvor radikal abgelehnte Hippie-Ideale entwickeln konnte. Denn erstens ist der Weg von der »Woodstock-Nation« zum »Turnschuh-Kapitalismus« nicht gerade lang und hat schon Slavoj Žižek (jedoch deutlich zynischer und ohne auch nur eines Anhauchs popkulturellen Wissens, wie etwa 2005 in »Die politische Suspension des Ethischen«) schon immer gerne darauf hingewiesen wie sehr gewisse Aspekte »der Ideologie der 60er« (»Motti der Spontanität, des kreativen Ausdrucks«, »Nichtentfremdete Spontanität«, Selbstverwirklichung«) vom Neoliberalismus scheinbar ohne größere Gegenwehr übernommen bzw. im Sinne einer feindlichen Übernahme angeeignet werden konnten. Jetzt ist Žižek aber sicher jemand, der auch ohne Neoliberalismus an »der Ideologie der 60er« einiges (wenn nicht sogar noch mehr) auszusetzen hätte.
Näher bei Fisher (und ganz weit weg von Žižek) ist da schon Bini Adamczak, die in »Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende« (2017) von der »neoliberalen Konterrevolution als Zerrspiegel der Revolutionswelle von 1968« spricht (und im Umkehrschluss – für Žižek & Co – »die stalinistische Konterrevolution als Zerrspiegel der Revolution von 1917« beschreibt). Daraus folgt zweitens ein anderer Blick auf die »60er«, der seinerseits wiederum genau jener rhizomatischen Wühlarbeit geschuldet ist, die Fisher dann doch auch erheblich von Simon Reynolds unterscheidet (reicht Reynolds ein catchy wording wie »Retromania« oder »Conceptronica«, um sofort loszulegen, so scheint Fisher zuerst immer noch mehr Bücher, Platten, Filme etc. verschlungen, gesucht, entdeckt zu haben, um überhaupt mal ein/das Thema behandeln zu können).
Dabei ist er jetzt aber nicht allein auf weiter Flur. Schon 2005 versuchte die Ausstellung »Summer of Love. Psychedelische Kunst der 60er Jahre« (u. a. mit Katalogtexten von Reynolds, aber auch Diedrich Diederichsen), der psychedelischen Kunst den ihr zustehenden Rang in der Kunstgeschichte zu geben (ähnlich den erst in den späten 1960ern erfolgten quasi »Rehabilitierungen« des Symbolismus, der Prä-Raffaeliten und sonstiger »dekadenter« Kunst). Noch mehr bei Fisher positionierte sich dann 2016 die Ausstellung »Hippie Modernism: The Struggle for Utopia«. Hier findet sich all das vereint, was eben nicht eh schon hinlänglich über die Sixties bekannt ist.
Auch bei Fishers »Acid Communism« geht es um etwas in der Vergangenheit Übersehenes bzw. geradezu aus der Geschichte Getilgtes, Herausgeschriebenes. Er schreibt: »Die Aspekte der Gegenkultur, die zur Aneignung geeignet waren, wurden als Vorläufer eines ›neuen Geistes des Kapitalismus‹ neuen Zwecken zugeführt, während diejenigen, die inkompatibel zu einer Welt der Überarbeitung waren, verteufelt wurden wie so viele unproduktive Kritzeleien, die in der widersprüchlichen Logik der Reaktion zugleich gefährlich und machtlos sind.«
Bomb Culture #1
Ein erster »Vorgeschmack« auf die späteren Fluchtwege hin zu »Acid Communism« findet sich bei Fisher schon im Text »k-punk, or the Glampunk Art Pop Discontinuum« aus 2004 (der auch in der aktuellen »k-punk«-Anthologie zu finden ist) sowie 2016 in »The Weird And The Eerie«. Hier erwähnt Fisher das 1968 von Jeff Nuttall veröffentlichte (und erst 2018 wieder aufgelegte) Buch »Bomb Culture«, welches – eingerahmt zwischen Beatles-Exegesen und Beat-Generation-Weiterführungen – die Gefahr eines nuklearen Kriegs als eigentliches Dispositiv der 1960er begreift und angesichts dessen »Love & Peace« als vielleicht nicht ganz so praktikable Reaktion darauf sieht.
Stattdessen sieht Nuttall, Burroughs-Intimus und schwer in der damaligen Londoner »counter culture« (»OZ-Magazine« etc.) involviert, gerade in gegenkulturellen Praktiken und Manifestationen Potenzial für gesellschaftlichen Wandel. Das liest sich zwar stellenweise so, als würde Albert Ayler über »Sgt. Pepper« improvisieren, während William Burroughs und James Joyce die englische Grammatik neu mischen, aber es macht mit den Gedanken, die einem beim Lesen ja immer kommen, schon sehr komische Sachen, was dabei auch an eine dieser typischen Stellen aus der »Illuminatus!«-Trilogie von Robert Shea und R. A. Wilson (1975) erinnert, wo im zweiten Band »Der goldene Apfel« dieser unscharf zwischen Quantenphysik und Lovecraft (oder Zen und Buddha) oszillierende Satz steht: »Sie gehen gelassen und ungeahnt einher, nicht in Räumen wie wir sie kennen, sondern zwischen ihnen.« Nur dass dies bei »Bomb Culture« schon schwer Richtung »Clockwork Orange«, Ziggy und Punk weist. Oder eben Black Sabbath.
Bomb Culture #2 (Exegese)
… Die Sixties am Samstag, 6. Dezember 1969 (einen Tag nach Krampus) in Altamont mit »Sympathy For The Devil« enden lassen … Die Seventies am Freitag, 13. Februar 1970 mit dem Plattendebüt von Black Sabbath beginnen lassen (mit Blitz & Donner & Glockengeläut & Teufelsdreiklang und der Frage »What Is This That Stands Before Me?«) … Die Seventies am 7. Juli 1970 nach dem Erscheinen von »Funhouse« der Stooges nochmals beginnen lassen … Analog dazu die Sixties 1960 mit Hitchcocks »Psycho« beginnen lassen und die Eighties zwischen »Out Of The Blue« von Dennis Hopper (1980) und »Twin Peaks« (David Lynch, 1990) rekonstruieren … Bei Arthur Machens »Das Abenteuer mit dem verschwundenen Bruder« (aus »Die Botschafter des Bösen«, 1895) lesen: »Wie töricht es war, beim Betrachten der Dinge ein Kaleidoskop, wie er sich ausdrückte, anstatt eines Teleskops zu benutzen.« … Bonus Track: Bowies »Space Oddity« in die Umlaufbahnen von Burroughs und Ballard schleudern und bei der »Glitter Apocalypse« (Roy Carr/Charles Shaar Murray) von »Future Legend« (»This Ainʼt Rock and Roll, This Is Genocide!«) auf Bowies »Diamond Dogs« (1974) landen …
Pathos Passage(n)
Für Fisher geht es nun bei »Acid Communism« auch darum, »dass der proletarische wie kleinbürgerliche Nachwuchs sehr spezifische subkulturelle Haltungen einnahm« (Uli Krug). Dabei geht es vor allem um Glam und Progrock, aber interessanterweise nicht um den quasi lumpenproletarischen bzw. wie es Marx auch formulierte »buntscheckigen Haufen« (der bei Marx im englischen Original »motley crew« heißt!) als jenem Nachwuchs, der in Sachen Musik dann doch lieber Hardrock und Heavy Metal zugeneigt war (mit all den Kreuz-und-Querverbindungen zu Glam und Prog eingeschlossen.)
Jetzt mag es in Krisenzeiten durchaus verlockend (und notwendig) sein, sich genau solche Musik anzuhören, die mit dem, was Mark Fisher mal »Kapitalistischer Realismus« genannt hat und was sich mittlerweile bei Georg Seeßlen und Markus Metz zum »Kapitalistischen (Sur)realismus« weiterentwickelt hat, so gut wie gar nichts zu tun hat, aber manchmal braucht es einfach ganz simpel was auf die Ohren (Slayer statt Disco), damit, frei nach dem Motto »As long as the music is loud enough, we wonʼt hear the world falling apart« aus »Jubilee« von Derek Jarman (1978), der Kopf wieder klar wird (Bud Spencer/Terence Hill-Filme funktionieren ähnlich).
Von daher mag es jetzt durchaus wieder um Pathos (und nicht um Alarmismus, Gemenschel oder die Androhung einer »neuen Normalität«) bzw. um Pathosanfälligkeiten gehen, jedoch eher im Sinne einer Lacanʼschen »passage à l’acte« als »Flucht vor dem Anderen in die Dimension des Realen« (Dylan Evans »Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse«, 1997). Klingt verschwurbelt, ist es auch. Gemeint ist dabei der Versuch, einen »Ausgang aus dem symbolischen Netzwerk« (bzw. »eine Auflösung des sozialen Bandes«) zu finden und/oder herzustellen, indem sich das Subjekt auflöst (was im radikalsten Fall durch Suizid geschieht) und dann (kurzzeitig) »für einen Augenblick zum Objekt wird«, um dann jedoch den Schauplatz des Geschehens wieder verlassen zu können. Quasi Selbstobjektivierung als Selbstschutz für »die Seelen, welche die Gegenwart peinigt, die Vergangenheit abstößt und die Zukunft erschreckt und zur Verzweiflung bringt« (Joris Karl Huysmanns: »Gegen den Strich«, 1884).
Diesem (aristokratischen) Pathos der Décadence bei Huysmanns steht jedoch 20 Jahre später eine (proletarische) Wirklichkeit gegenüber, die in Arthur Machens »Der Berg der Träume« (1904) exemplarisch auf jenen Punkt gebracht wird, wo das »symbolische Netzwerk« (der Kunst, der Imagination, des Symbolismus) nicht mehr funktioniert und die Welt völlig entzaubert plötzlich als »ein Inferno, das von keinem Dante, sondern von korrupten Billigbauunternehmern stammte« erscheint (Machens drogenabhängiger und dem Phantasieland seiner Kindheit ebenso wie dem literarischen Ausdruck dessen hinterherjagender und dabei deutlich mehr einem symbolistischen Lebensstil zugeneigter, denn irgendwie künstlerisch talentierter Protagonist überlebt die eigene »Objektivierung« dann auch nicht).
Und erinnert das alles nicht auch an die ewigen Debatten, Auseinandersetzungen und Diskurse rund um Hardrock und Heavy Metal? Denn während bei Punk (überwiegend) klar ist, das Huysmanns mit allem Recht hat und nur »korrupte Billigbauunternehmer« für den Zustand »Inferno« verantwortlich sind, ist das bei Hardrock/Heavy Metal nie ganz so klar. Vor allem, weil diese Genres (mehr noch als andere) von einer Art »Denn sie wissen nicht, was sie tun« gekennzeichnet sind, die ihrerseits wiederum dazu führt, dem Ganzen gleich gar kein »Wissen« zu unterstellen. Dabei stehen gerade Black Sabbath exemplarisch für die Erkenntnis, dass Dante durchaus auch einfach ein »korrupter Billigbauunternehmer« sein kann (ähnlich dem Märchen von »Des Kaisers neuen Kleidern«), wie es ebenso unter gewissen Umständen möglich ist, dass »korrupte Billigbauunternehmer« zu Dante werden können. Zwar bewegen sich Black Sabbath nie in Art-School-Nähe, wie etwa die ebenfalls aus der working class stammenden Small Faces, aber sie behandeln ihre Themen (nukleare Apokalypse, Entfremdung, Paranoia) ähnlich ernsthaft.
Paranoid Children Of The Grave
So lassen sich die frühen 1970er durchaus zwischen apokalyptischem Horror (Black Sabbath) und futuristischer Kommunen-Science-Fiction (Hawkwind) einordnen. Zwar kommen beide Bands bei Fisher nicht vor, aber wie Chucke Eddy in »Stairway To Hell. The 500 Best Heavy Metal Albums In The Universe« (1991) nicht müde wird, zu betonen, finden sich hier (vor allem beim retroaktiven Hören) schon auch gewisse Aspekte von so unterschiedlichen Acts wie Metallica und Voivod über Pere Ubu und Joy Division bis hin zu (Electric) Miles Davis und Brian Eno gleichsam im Embryonalstadium wieder. Vielleicht ergibt sich Joy Division (rein rechnerisch) ja auch aus Neu! + Black Sabbath + Kraftwerk + The Stooges? Dabei gilt auch hier, dass durch Vergröberung einzelner Details (und das Weglassen anderer) der Blick auf einen Gegenstand (z. B. ein Genre) auch deutlich verfeinert werden kann (vgl. u. a. auch AC/DC, Motörhead, The Ramones). Lange bevor St. Vitus Anfang der 1980er-Jahre jegliche Versatzstücke handwerklicher Leistungsschauen über Bord geworfen (und damit auch das Terrain für Acts wie Melvins, Earth, Upside Down Cross, Sleep, Sunn O))) vorbereitet) haben, gab es schwer von Black Sabbath infizierte Bands, die sich (neben all dem apokalyptischen Horror-Brimborium) vor allem wegen der relativen Einfachheit des Nachspielens zu diesen Quartett aus der Industriestadt Birmingham hingezogen gefühlt haben. In dieser Liga wird dem einen Riff nicht nur vollkommen vertraut, sondern es wird auch in all seiner sonischen Brachialität zelebriert.
Schon Poe wusste in seinem Text »Die Methode der Komposition« (1846), dass es in der Schauerliteratur vor allem darum geht, einen Schauer (Gänsehaut, Grusel) zu erzeugen. Und am besten geht so etwas mit jeder Menge Effekten (wie exemplarisch bei »Der Rabe« vorexerziert). Gruselt es mich, kriege ich Gänsehaut oder fühle ich mich im Licht einer kleinen Leselampe komisch und schalte dann doch lieber (sicher ist sicher) das Zimmerlicht an, funktioniert die Geschichte. Es ist wie bei einem Disco-Track: Wird dazu getanzt ist es Disco, wird dazu nicht getanzt, nicht. Wogegen sich Poe hier entschieden wendet, sind all jene Anwandlungen (nicht Tricks!), die dem Schauer und dem Gruseln an sich nicht vertrauen und von daher Horrorliteratur mittels jeder Menge literarischer Kunstfertigkeiten zu »Literatur« werden lassen wollen. Demgegenüber propagiert Poe die positive Macht jener Effekte, die vor allem durch stete »Wiederholung« eintreten können. Als ein Charakteristikum der Qualität des »Raben« nennt er dann auch, »dass ich im Ganzen die Monotonie des Klangs beibehielt, während ich diejenige des Gedankens stetig veränderte«.
Knapp 80 Jahre später stellt H. P. Lovecraft in seiner großen, erstmals 1927 veröffentlichten Genreanalyse »Das übernatürliche Grauen in der Literatur« dann auch klipp und klar fest: »Atmosphäre ist das Allerwichtigste« (aka »das Erzeugen bestimmter Gefühle«). Poe formuliert hier ein grundsätzliches Problem der Moderne: Führt die Komplexität von Kunst zu einem komplexeren Denken, oder ist es vielleicht umgekehrt? Ermöglicht doch erst die stete Wiederholung (Poe spricht hierbei vom »Effekt der Variation der Anwendung«) jene »Mehrdeutigkeit«, von der nach Poe auch Nietzsche und in Folge alle von Disco über Deleuze bis hin zu Butler und Minimal-Techno sprechen, denen es um jene, wie Poe es ausdrückt, »Unterströmung an Bedeutung« geht, die sich im Hochkomplexen als vermeintliche Tiefe ausgibt und dabei nichts anderes tut, als die Mannigfaltigkeiten von Oberflächen(reizen) mit der eigenen Oberflächlichkeit gegenüber dem, was als trivial/banal angesehen wird, verwechselt. Kurz: Ebenso, wie viele Töne wenig Musik bedeuten können, kann »Tiefe« extrem unterkomplexes Denken bewirken bzw. manifestieren.
Nicht umsonst sind die Poe-Verfilmungen von Roger Corman (u. a. mit Vincent Price und Peter Lorre), die dieser für AIP gemacht hat – übrigens genau jene Firma, die 1963 die US-Version des nach literarischen Vorlagen von Guy de Maupassant, Alexei Tolstoi und Anton Tschechov entstandenen italienischen Mario-Bava-Streifens »Black Sabbath« betitelt hat – gerade wegen ihrer effektgeladenen Inszenierung (plus jeder Menge schwarzen Humors und genau der Überdosis affektierter Dandyhaftigkeit, die sich auch durch das Gesamtwerk von Poe zieht) immer noch zwingend in der Art, dass sie einem gleichsam in einem Poeʼschen Themenpark einlullen, der sich jedoch weniger als Hauptattraktion denn als (eigene) Side-Show präsentiert (und dabei auch immer wieder den Zusammenhang zwischen »Poe« und »Pose«/»Poser«/»Posieren« thematisiert).
Diese, in den Augen Poes vor allem europäische (bzw. speziell »deutsche«) Unsitte versaut nun nicht nur die besten Gespenstergeschichten, sondern auch immer wieder den Genuss etlicher Black-Sabbath-Songs. Da ist es nur gut, dass sich viele Off-Off-Off-Black Sabbath-Wannabes bei genauerem Hinhören als Motörhead avant la lettre herausstellen. (Will jedoch eine Politik Angst erzeugen, geht sie denselben Weg: Pressekonferenzen nicht auf Grundlage von Expertisen, Fakten oder »juristischen Spitzfindigkeiten«, sondern Horrorvisionen von schon bald gewesenen Eltern und Großeltern und einem vom Sensenmann deutlich dezimierten persönlichen Umfeld, ohne dabei auch nur den geringsten Willen zu zeigen, dies in Folge dann eventuell mal wissenschaftlicher fundiert zu präsentieren und gegebenenfalls abzuändern.)
Jukebox Of Doom
»Die Gebäude sind alt genug, um öde und verkommen auszusehen, aber wiederum noch nicht so alt, dass sie schon wieder sehenswürdig wären.« (Arthur Machen: »Der Große Gott Pan«, 1894)
Wie Arthur Machen es hier sehr präzise auf den Punkt bringt, braucht es immer eine gewisse Zeit (aka Dauer) bis etwas »Altes« wieder jene unheimlichen Reize aussenden kann, die sowohl für Gothic wie für Camp gelten: eine gewisse (tragisch/melodramatisch grundierte) Leidenschaft für verfallene (Zeichen-)Ruinen zwischen Melancholie, Verwunschenheit und Hauntologie.
Was in den 1980ern/1990ern Sampler wie »Back From The Grave«, »Desperate Rock’n’Roll« oder »Born Bad« für Garagen-Punk und obskuren Rockabilly im Sinne von »Songs The Cramps Taught Us« waren, das sind heute Sampler wie »I’m A Freak Baby: A Journey Through The British Heavy Psych & Hard Rock Underground Scene 1968–72« (Grapefruit Records, 2016) oder die 2015 gegründete und mittlerweile auf zehn Volumes angewachsene Reihe »Brown Acid« (RidingEasy), die im Grunde dort in den Garagen weiter graben, wo zuvor Ende der 1960er aufgehört worden ist. Dabei fällt auf, dass – im Gegensatz zu den Samplern mit 1950s/60s-Material – das Teen-Age nach Woodstock und vor Disco/Punk vor allem von einer Post-Sixties-Teen-Angst geprägt ist, die sich hier durch diverse »Teenage Wastelands« zieht, als wäre »Hair« mit George R. Romeros »Night Of The Living Dead« vertauscht worden.
Wenn Ambrose Bierce in »Eine Straße im Mondschein« (1907) davon schreibt, »wie entsetzlich eine Furcht sein muss, die Sicherheit vor den bösen Dingen der Nacht in der Dunkelheit sucht«, dann scheinen Teile der frühen 1970er dem in nichts nachstehen zu wollen. Rock on!
Summit: »The Darkness« (USA, 1969)
Nach einem 50s-Echoplex-Science-Fiction-Intro wird hier die Ein-Riff-Politik der MC5 kongenial mit der Moe-Tucker/Velvet-Underground-Tribal-Beat-Doktrin zu einem formidablen Rock’n’Roll-Primitivismus (inklusive säurehaltiger Garage-Punk-Psychedelic-Ausflüge auf der Second-Hand-Gitarre) zusammengeführt.
Iron Claw: »Skullcrusher« (UK, 1970)
Immer unheimlich: Wenn rostige Acid-Fuzz-Riffs mit Black Sabbath und Blue Cheer ein Wechselbalg-Spiel treiben und mit pychedelischem Hippiegesang aus Bong-Hallräumen zusammentreffen. Noch unheimlicher: Wenn das alles aus Schottland kommt und genau so klingt wie Bandname und Songtitel.
Negative Space: »The Calm After The Storm« (USA, 1970)
Wenn es so richtig schön »FZZZZ« macht, ist der Rest auch schon egal. Wobei dazu noch eine unglaubliche Prä-Punk-Coolness kommt, deren teilnahmslose Unterkühltheit ebenso Richtung Chrome wie Pere Ubu weisen mag. Toll auch das wie aus einem Bandsalat (mit Wasserschaden) gerettete Solo, welches jedoch nur den Auftakt zu einer längeren Instrumental-Exkursion darstellt, die sich wie folgt beschreiben lässt: Wah-Wah-Wakka-Wakka-Part (bis die Batterie ausläuft), gefolgt von einer Art Breakbeat (mit Percussiongetrommel), gefolgt von – Achtung! – Kuhglocken, gefolgt von Solo Nr. 2 (scheinbar die Bandsalat-Version des zuvor schon gehörten Bandsalat-Solos) mit noch mehr »FZZZZ«.
Punch »Deathhead« (USA, 1970)
Im mondsüchtigen Circus-Freakshow-Walzer-Rhythmus ansetzendes Vehikel für eine sonische Schlangenbeschwörung aus dem heiligen Buch der Hendrix-Feedback-Offenbarungen, garantiert ohne virtuose Fingerfertigkeiten, aber mit mächtig viel Ohrensausen!
Barnabus: »Apocalypse« (UK, 1971)
Black-Sabbath-Adepten, die getreu der bekannten Losung »Wenn du es nicht verfeinern kannst, dann vergröbere es« (Karl Bruckmaier) das, was ihre Vorbilder noch an Blues übriggelassen haben, nochmal in den Vergröberer werfen. Die Dystopie ist ein Led-Zeppelin-Memorial-Break (To-End-All-Black-Sabbath-Breaks) als Isolationshaft in elliptischer Endlosschleife. Endet nicht von ungefähr in einem sonischen Inferno, welches verdammt nach einem (saxophonfreien) Reenactment der Stooges und ihrer 1970er Free-Jazz-Extravaganz »L. A. Blues« klingt.
https://www.youtube.com/watch?v=qC1h4fuTc10
Cycle: »Father of Time« (UK, 1971)
Wenn nach zu viel »Dr. Who«-Folgen bösartige Sonic Blasts als Fake-Stereo-Echo-Ping-Pongs das Thema »Evolution Ends« (»Because of things we done«) behandelt. Zwar trägt der »Fridays For No Future«-Gesang noch eine deutlich psychedelische Blumentracht im Haar, bewegt sich damit jedoch weniger ins glamouröse T.Rex-Alice-im-Wunderland-Over-the-Rainbow-Zauberland, sondern biegt schon deutlich Richtung Ronnie-James-Dio-Fantasy-Mittelalter-Märkte ab. Das Heavy-Fuzz-Solo ist dementsprechend verzweifelt bis zur Selbstaufgabe.
https://www.youtube.com/watch?v=uJidJ4SE6Ts
Factory: »Time Machine« (UK, 1971)
Wenn von Black Sabbath inspirierte Riffs knapp an Uriah Heeps »Easy Livin’« vorbeischrammen, die dabei zusätzlich fehlende Tiefe (aka BÄSSE) aber durch Geschwindigkeit und einem immer wieder scheinbar absterbenden Gesang wett gemacht werden, dann kulminiert so ein Track logischerweise in einem fuzzigen »Scheiß-auf-Tonleitern«-Solo, welches zudem komischerweise (und nicht nur hier) eher nach Krautrock als nach aus Psychedelic destilliertem Hardrock klingt. Das H.G. Wells-Thematik-Zeitreisen wird zudem um irgendwas mit »robots« und »deadly computers« erweitert.
https://www.youtube.com/watch?v=fb_M0kIevB4
Third World War: »End of Time« (USA, 1971)
Daran kann sich einfach nicht sattgehört werden: Feiste »Funhouse«-Riff-Paraphrasen mit MC5-Community-Appeal zum gemeinsamen Zeitenende im pilzbefallenen Garagen-Bunker der eigenen Wahl. Auch hier unterscheiden sich Bandname und Songtitel in nichts vom Dargebrachten.
Grand Theft: »Scream (Itʼs Eating Me Alive)« (USA, 1972)
Schon deutlich von Zombies angenagter Wunsch, immer und überall »Boogie« tun zu können, um dem allgemeinen Irrsinn (zwischen elterlichem Hausarrest und Zombieapokalypse) mit noch mehr Acid-Head-Wahnsinn begegnen zu können. Heavy Metal als Prä-Punk und Ergebnis jeder Menge Bad Trips bei Kinobesuchen von Horror- und Science-Fiction-Filmen.
Wicked Lady: »I’m A Freak« (UK, 1972)
Wenn das Riff von Motörheads »Overkill« und der Sound »Raw Power«-Proberaum-Sessions der Stooges ihre dunklen Schatten vorauswerfen, kann die Losung nur lauten: »I’m a freak baby / On a loosing streak / And I’m coming after you«.
Bücher:
Bini Adamczak: »Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende«, Edition Suhrkamp, 2017
Ambrose Bierce: »Eine Straße im Mondschein«, in: Ambrose Bierce: »Horrorgeschichten«, Insel Verlag, 2014
Greg Castillo, Esther Choi, Alison Clarke, Hugh Dubberly (Hg.): »Hippie Modernism: The Struggle for Utopia«, Walker Art Center, 2016
Chuck Eddy: »Stairway to Hell. The 500 Best Heavy Metal Albums in the Universe«, Three Rivers Press, 1991
Dylan Evans: »Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse«, Turia + Kant, 1997
Mark Fisher: »The Weird and the Eerie«, Repeater Books, 2016
Mark Fisher: »k-punk: Ausgewählte Schriften 2004–2016«, Critica Diabolis/Edition Tiamat, 2020
Christoph Grunenberg (Hg.): »Summer of Love. Psychedelische Kunst der 60er Jahre«, Hatje Cantz Verlag, 2005
Joris Karl Huysmanns: »Gegen den Strich«, Ullstein, 1972
Richard Linklater, Denis Montgomery, and Friends: »Dazed and Confused. Teenage Nostalgia. Instant and Cool 70’s Memorabilia. A Celebration of the Hit Movie«, St. Martin’s Press, 1993
H.P. Lovecraft: »Das übernatürliche Grauen in der Literatur«, Golkonda Verlag, 2014
Arthur Machen: »Der große Gott Pan«, in: Arthur Machen: »Die leuchtende Pyramide und andere Geschichten des Schreckens«, Suhrkamp, 1982
Arthur Machen: »Das Abenteuer mit dem verschwundenen Bruder«, in: Arthur Machen: »Die Botschafter des Bösen«, Pieper, 1993
Arthur Machen: »Der Berg der Träume. Ein Künstlerroman«, Pieper, 1994
Markus Metz, George Seesslen: »Kapitalistischer (Sur)realismus. Neoliberalismus als Ästhetik«, Berz+Fischer, 2018
Jeff Nuttall: »Bomb Culture«, Strange Attractor Press, 2018
Edgar Allan Poe: »Die Methode der Komposition«, in: Edgar Allan Poe: »Das Gesamtwerk«, Band 10, Manfred Pawlak Verlag, 1979
Simon Reynolds: »Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past«, Faber & Faber, 2012
Robert Shea, R. A. Wilson: »Illuminatus! Der goldene Apfel«, Rowohlt, 1981
Slavoj Zizek: »Die politische Suspension des Ethischen«, Edition Suhrkamp, 2005
Musik:
Black Sabbath: »dto.«, Warner Brothers, 1970
David Bowie: »Diamond Dogs«, RCA, 1974
The Stooges: »Funhouse«, Elektra, 1970
V/A: »I’m A Freak Baby: A Journey Through the British Heavy Psych & Hard Rock Underground Scene 1968–72«, Grapefruit Records, 2016
V/A: »Brown Acid, Vol. 1–10«, RidingEasy, 2015–2020
Filme/Serien:
»Black Sabbath« (Mario Bava, IT/FR, 1963)
»Dazed and Confused« (Richard Linklater, US, 1993)
»Jubilee« (Derek Jarman, UK, 1978)
»Out of the Blue« (Dennis Hopper, US, 1980)
»Psycho« (Alfred Hitchcock, US, 1960)
»Stranger Things« (Matt & Ross Duffer, US, 2016–2019)
»Twin Peaks« (David Lynch, Mark Frost, US, 1990-1991)