Isolation. Dekadenz. Dystopie. Es klingt nach den typischen Zutaten für einen Houellebecq-Roman: Jed Martin, ein vereinsamter Künstler, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Gesellschaft vom kleinsten industriell gefertigten Teil bis hin zu den großen sozialen Mechanismen und Umbrüchen seiner Zeit zu dokumentieren und zu katalogisieren. Er führt ein Leben entfremdet von seiner Familie, unfähig zu Gefühlen oder Beziehungen – isoliert in einer kalten, kapitalistischen Gesellschaft, die ihm zunächst Gleichgültigkeit und dann doch materiellen Wohlstand und Anerkennung als Künstler zuteil werden lässt. Seinen Durchbruch schafft er mithilfe einer fotografischen Interpretation von Michelin-Straßenkarten: einer »Neuvermessung der Welt« und finanziell abgesichert, kapselt sich Martin endgültig von der Welt und seinen letzten Beziehungen, die ihn darin halten, ab und zieht sich in eine dystopische Kunstwelt zurück, in der alles dem Verfall preisgegeben ist und die Vegetation erneut Macht über Welt und Menschen gewinnt.
Einmal mehr macht sich Michel Houellebecq in »Karte und Gebiet« auf, die Abgründe der menschlichen Seele zu ergründen. Dabei bewegt er sich mithilfe seines passiven Protagonisten Martin diesmal durch die Untiefen der Pariser Kunstszene. Diese erweisen sich in »Karte und Gebiet« jedoch sowohl in sexueller als auch psychologischer Hinsicht als durchgehend seicht und schließen kaum an die düsteren, menschenverachtenden, oft brutalen Schilderungen seiner früheren Werke an.
Allerdings ähnelt Martin wie auch bereits die Protagonisten vergangener Werke (z. B. »Ausweitung der Kampfzone«) in einigen Facetten seinem Erschaffer. Dennoch beinhaltet genau diese Ähnlichkeit den eigentlichen Wendepunkt der Handlung. Denn Houellebecq lässt – neben diversen Persönlichkeiten aus dem französischen Literatur-, Medien- und Kunstbetrieb – plötzlich auch Michel Houellebecq, Schriftsteller, auftreten. Er soll das Vorwort zu Martins neuestem Ausstellungskatalog schreiben und wird als Dank von ihm porträtiert. Mit einem zwinkernden, fast parodistischem Auge, das man so von Houellebecq noch nicht kannte, lässt er sich selbst als depressiven, misanthropischen Alkoholiker auftreten, der weitgehend mit der Literatur und der Welt abgeschlossen hat. Einer, der es im Laufe seiner Karriere geschafft hat, sich so viele Feinde zu schaffen, dass es kaum jemanden wundert, wenn er im dritten Teil des Buches mithilfe eines Laserschneiders ermordet, zerstückelt und einem Gemälde von Jackson Pollock gleich, über seinem Teppich verteilt wird. Hier betritt Houellebecq – als realer Autor – tatsächlich neues Gebiet und aus gewohnter Gesellschaftskritik wird Kriminalroman.
Zwar wurde Houellebecq für »Karte und Gebiet«- endlich und im dritten Anlauf – mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, dennoch hinterlässt das Werk im Vergleich einen handzahmen Nachgeschmack. Nie war Houellebecq so wenig schockierend.
Michel Houellebecq: »Karte und Gebiet«, Aus dem Französischen von Uli Wittmann, Köln: Dumont 2011, 416 Seiten, EUR 23,70