Das moderne Sarajevo präsentiert sich – insbesondere in der Festivalsaison – als eine Stadt in ständiger Feierlaune. Von den vielen Events, die das Filmfestival begleiten, werden nicht wenige unter freiem Himmel veranstaltet, sei es als internationale Open-Air-Disco oder als Revival-Konzert von heimischen Bands der 1980er-Jahre. Die Flaniermeile von Sarajevo, die sich vom orientalischen Altstadtviertel Baščaršija über die europäisch wirkende Fußgängerzone in der Straße Ferhadija fast bis zum Ende der langen Marschall-Tito-Straße zieht, ist an sich ganztags, aber auf jeden Fall abends voller Spaziergänger und Ausgehwilliger jeden Alters. Trotz der vielen Festivalbesucher und Touristen bilden die selbstbewussten Einheimischen dennoch die große Mehrheit. Die zahlreichen Lokale sind voll, überall hört man laute Musik, die meisten jüngeren Frauen sind wie für eine besondere Party herausgeputzt. Das Festival selbst fand an neunzehn verschiedenen Locations statt, die meisten davon im Stadtzentrum, einige in den entlegeneren Neubauvierteln. Nicht zufällig birgt das diesjährige Plakat – ein rot-beiger Blumenstrauß vor türkisfarbenem Hintergrund – für jene, die des Bosnischen kundig sind, ein witziges Wortspiel: »Sa raj evo« heißt so viel wie »SA (Autokennzeichen für Sarajevo) Paradies hier«.
Ehrenherzen und Tribute
Unter den Ehrengästen des Festivals, das bereits im Kriegsjahr 1994 ins Leben gerufen wurde, war diesmal der legendäre britische Komiker John Cleese, der das Honorary Heart of Sarajevo für seinen Beitrag zur Filmkunst erhielt. Neben Sketches in »Monty Python’s Flying Circus« spielte Cleese auch verschiedene Rollen in den vier Monty-Python-Filmen »And Now for Something Completely Different« (1971), »Monty Python and the Holy Grail (1975)«, »Life of Brian« (1979) und »The Meaning of Life« (1983). Seinen berühmtesten Part hatte er aber zweifellos in der skurrilen Komödie »A Fish Called Wanda«, für die er auch selbst das Drehbuch geschrieben hatte. Das Festivalpublikum konnte die Verwicklungskomödie aus dem Jahr 1988 in einer Open-Air-Vorstellung sehen.
Ein weiterer Träger des Honorary Heart of Sarajevo wurde der US-Regisseur Oliver Stone, bekannt für seinen recht brutalen Streifen »Natural Born Killers« (1994) sowie seine Dokumentation »Snowden« (2016). Im Rahmen des »Tribute to Oliver Stone« wurde auch seine neueste, vierteilige Dokumentation gezeigt: »The Putin Interview«. Der Film, für den Stone über einen Zeitraum von zwei Jahren an die zehn Interviews mit dem russischen Präsidenten geführt hatte, erhielt den Publikumspreis für den besten Dokumentarfilm.
Ein Tribut galt auch dem US-amerikanischen Regisseur Joshua Oppenheimer, der 2012 mit seiner denkwürdigen Dokumentation »The Act of Killing« auf den vom CIA mitinitiierten Massenmord an Anhängern der Kommunistischen Partei Indonesiens und chinesischstämmigen Staatsbürgern nach dem Militärputsch 1965 aufmerksam machte. Nicht weniger radikal geriet sein zweiter Film: »The Look of Silence« (2014) thematisierte ebenfalls den indonesischen Genozid von 1965, nun aber aus der Sicht der Nachkommen von Opfern.
Menschen in Lebenskrisen
Die Sektion Spielfilm konnte mit einer ganzen Reihe von dramatischen Geschichten aufwarten. Bemerkenswert war darunter der albanische Beitrag: »Daybreak« von Gentian Koci, dessen Hauptdarstellerin Ornela Kapetani die Auszeichnung als beste Darstellerin erhalten hat, verhandelt den täglichen Ûberlebenskampf einer alleinerziehenden Mutter, die mehr oder weniger gleichzeitig ihre Arbeit im Spital und ihre Wohnung verliert. Als eine willkommene Lösung stellt sich die Betreuung einer betagten Dame in deren bürgerlichen Wohnung dar. Um ihr Pflegerinnengehalt weiter beziehen zu können, greift die verzweifelte, wenn auch besonnene Frau zu radikalen Mitteln.
Der rumänische Film »Meda or The Not So Bright Side of Things« von Emanuel Parvu, der den Preis für den besten Regisseur für sich beanspruchen konnte, erzählt von den Problemen eines rumänischen Holzfällers, der nach dem Tod seiner Frau verzweifelt versucht, die gemeinsame Adoptivtochter Meda zu behalten, und dabei auf jede Menge bürokratische Hürden stößt. Der georgische Beitrag, »Hostages« von Rezo Gigineishvili präsentiert die Geschichte eines jungen Paares, das in den 1980er-Jahren die Flucht aus der Sowjetunion plant. Am Tag nach der Hochzeit ist es so weit: Die jungen Leute wagen sogar eine Flugzeugentführung, die aber bald an technischen Problemen scheitert. Bei aller Dramatik ging der Film unerwarteterweise leer aus. Nicht so »Scary Mother« von Ana Urushadze, eine georgisch-estnische Koproduktion, die den Hauptpreis für den besten Spielfilm erhielt. Hier beschließt eine 50-jährige Frau, ihre Familie zu verlassen und sich ganz ihrer Schreibleidenschaft zu widmen.
Zwei bemerkenswerte Filme, die schwierige familiäre Konstellationen zeigen, sind »Son of Sofia« der griechischen Regisseurin Elina Psykou und »Loveless«, der neue Film des russischen Regisseurs Andrey Zvyagintsev, der 2014 mit »Leviathan« auf sich aufmerksam gemacht hatte. In »Son of Sofia« ist der zehnjährige Misha dabei, Russland zu verlassen, um seiner Mutter nach Athen zu folgen, wo sie einen deutlich älteren Griechen betreut. Als Misha erfährt, dass seine Mutter mit dem Mann verheiratet ist, reißt er von zu Hause aus. Auch in »Loveless«, dessen Protagonisten dem Titel voll und ganz gerecht werden, läuft ein Zwölfjähriger von zu Hause weg. Hier ist der Grund die anstehende Trennung der Eltern, die beide bereits einen neuen Partner haben und das Kind dem jeweils anderen unterjubeln wollen: Während die Mutter den Sohn in ein Internat geben will, meint der Vater, dass das Kind bei der Mutter bleiben sollte. So sehr »Loveless«, der in der zweiten Hälfte an Dramatik gewinnt, durch die Szenen der hochprofessionellen Suche nach dem jungen Ausreißer überzeugt, bleibt er bezüglich der Kausalität der Handlungen seiner Figuren etwas fragwürdig.
Traumatisierte Veteranen
Das Angebot an Filmen »aus der Region«, also aus den Ländern Ex-Jugoslawiens, und insbesondere an bosnischen Filmen, war auch diesmal sehr groß. Der offizielle wie inoffizielle Sieger war dabei »The Frog« von Elmir Jukić, eine bosnisch-mazedonisch-serbisch-kroatische Koproduktion. Das Veteranendrama, das bereits zehn Jahre lang erfolgreich an Sarajevos Theatern aufgeführt worden war, gewann den Publikumspreis für den besten Spielfilm. »The Frog«, kammerspielartig angelegt, bringt drei Männer zusammen: einen, der als Verteidiger Bosniens gekämpft hat, seinen jüngeren Bruder, der gerade noch zu jung war, um eingezogen zu werden, und einen Freund der beiden, der die Kriegsjahre im Ausland verbracht hat. Debatten darüber, wie man moralisch richtig leben soll und ob man dieses richtige Leben anderen aufzwingen darf, führt beinahe zu (Selbst-)Mord und Totschlag. Ein hochkonzentriertes Drama, in dem ausgiebig gestritten und geschimpft wird.
Mit »The Frog« vergleichbar, wenn auch eher als Episodenfilm angelegt, ist der zweite wichtige Spielfilm um kriegstraumatisierte Männer: »Dead Fish« von Kristijan Milić, eine bosnisch-kroatische Koproduktion. Der in Schwarz-Weiß gedrehte Film versammelt mehrere – vorwiegend männliche – Figuren aus einer bosnischen Kleinstadt, die alle durch den unerwarteten Selbstmord eines »Professor« genannten ehemaligen Lehrers und Bohemiens indirekt miteinander verbunden werden. Die zahlreichen Geschichten öffnen die Wunden des Krieges, zeigen aber auch die »ganz normale« Aggressivität der Männer untereinander sowie die kleineren und größeren Probleme von Einzelnen, Paaren und Familien in einer finanziell instabilen Zeit. Der großangelegte Film überzeugt in filmästhetischer Hinsicht auf ganzer Linie, die lautstarken Auseinandersetzungen unter den jungen und nicht mehr ganz jungen Männern können aber schon einmal zu viel werden.
Ein ganz anderer Beitrag wirft einen Blick von außen auf das heutige Bosnien: »3 Women or Waking up from my Bosnian Dream« des mexikanischen Regisseurs Sergio Flores Thorija. Hier sind es drei junge Frauen, die im heutigen Sarajevo an die engen Grenzen der konservativen Sexualmoral stoßen. Eine junge bosnische Köchin, die zwischen der stressigen Arbeit und der betreuungsbedürftigen Mutter zu Hause gerne einmal einen One-Night-Stand riskiert, muss schmerzlich erfahren, dass sich der Mann nach der Liebesnacht nicht mehr für sie interessiert. Eine brasilianische Nachtklubtänzerin wird nur so lange in der Nachbarschaft wie von einem jungen Bosnier akzeptiert, bis man mit Schrecken hinter ihre Tätigkeit kommt. Eine junge lesbische Bosnierin fürchtet, sowohl ihre beste Freundin als auch das Wohlwollen ihrer Eltern zu verlieren, wenn sie ihre Liebe zu Frauen öffentlich macht.
Deutschsprachige Beiträge
Nicht zuletzt waren auch mehrere Filme aus dem deutschsprachigen Raum bei der diesjährigen Auswahl vertreten. Den Spezialpreis der Jury für die Sparte Dokumentarfilm konnte »Kinders« abräumen, eine Dokumentation von Arash und Arman T. Riahi, die sozial benachteiligte Kinder in Wien begleitet, denen eine musikalische Ausbildung zu mehr Selbstvertrauen verhelfen soll. In der Sektion Jugend- bzw. Studentenfilm wurde »Wannabe« von Jannis Lenz gezeigt, ein 30-minütiger Film über eine Jugendliche, die um jeden Preis berühmt werden möchte. Als wichtiger Beitrag der Reihe »Human Rights Day« wurde die Schweizer Produktion »The Divine Order« von Petra B. Volpe betrachtet, eine Geschichte um die weibliche Selbstermächtigung in der Schweiz des Jahres 1971, kurz vor der Einführung des Wahlrechts für Frauen. Zu erwähnen ist auch der neue Film von Fatih Akin, »In the Fade«, in dem eine Frau nach dem Tod ihres Mannes und Sohnes bei einem Terrorangriff selbst zu den Waffen greift. Innerhalb der Reihe um Musikdokumentationen war auch Romauld Karmakars »If I Think of Germany at Night« zu sehen.
Das Sarajevo Film Festival überzeugte auch im 23. Jahr seines Bestehens durch ein reichhaltiges Angebot an internationalen wie regionalen Filmen und bekräftigte seinen Ruf als das bedeutendste Filmfestival Südosteuropas.