Holger Czukay 1983 © Conny Plank
Holger Czukay 1983 © Conny Plank

Retrospektive im Krautrockkino

Grönland Records bringt eine reichhaltige Retrospektive von Holger Czukay, dem Albert Einstein/Viktor Frankenstein der Rockmusik, in die Plattenläden. Was darin enthalten ist und wie man das einordnen kann, weiß skug.

Holger Czukay, Mitbegründer und bis 1977 Mitglied von Can und der vielleicht einflussreichste Komponist des Universums (neben Gott, der das Universum vor Jahren angeblich selbst komponiert hat), starb am 5. September 2017 im Alter von 79 Jahren. Doch – wenig überraschend – seine Musik lebt weiter, indem sie gerne, oft und laut von uns gehört wird. Wer das nicht tut, ist selbst schuld. Wer es jedoch tut, kann mit diesem Überblick seiner Arbeiten abseits der Band Can mögliche Lücken im Musikwissen füllen und Schätze des Klanges bergen. Die beschriebene »Cinema«-Box beinhaltet fünf Vinyl-Platten, eine DVD und eine VinylVideo-Platte sowie ein ausführliches Booklet mit Bildern des Maestros.

Die Gründe des Krautrocks
Wer mit Krautrock nichts anzufangen weiß, der schaue sich die BBC-Doku »Krautrock – The Rebirth of Germany« an. Nur so viel sei gesagt, dass da eine Menge Leute nicht nur geographisches, sondern vor allem musikalisches Neuland betraten. Man wollte mit dem Alten abschließen, doch die Nazis hatten ihre Niederlage überlebt und konnten ihren gesellschaftlichen Einfluss noch und nöcher fortsetzen. Wichtige gesellschaftliche Stellen mussten besetzt werden und so war es nicht unüblich, dass Lehrer X, Chefarzt Y oder Polizeichef Z davor erfolgreich als Nazis auftraten und danach weiter in ihren Ressorts z. B. als CDUler oder SPDler gesellschaftlichen Einfluss ausübten. Der Kampf der 1968er galt diesem ganzen braunen Nachhall und stellte sich diesem entgegen. Die Antwort auf die debile Volksmusik, welche von der Vergangenheit nichts wissen wollte und einfach weitermachte, war ein radikaler Neuanfang, der leider auch nicht ausschloss, dass seltsame Verirrungen wie Maoismus, RAF-Morde oder Hippietum unreflektiert Einzug in die Kunst der Zeit fanden. Man probierte einfach aus. Das alles und etwas mehr ist in der Doku zu sehen.

Den meisten Protagonisten kann man nicht wirklich zuhören, typisch Musiker eigentlich. Doch ein paar Leute stechen heraus. Einer davon ist Holger Czukay, der weder mit unerträglichen Kifferweisheiten um sich wirft (ॐ), noch sich ernster zu nehmen scheint, als es vonnöten ist. Wann immer und wo immer er spricht, hat man zuzuhören und Interessantes zu erfahren. Eine wichtige Station in Czukays Leben war die Zeit an der Musikhochschule in Köln. Der Einfluss des Professors Karlheinz Stockhausen, der seinen Aufenthalt dort sehr früh prägte und sein Talent erkannte, ist nicht zu unterschätzen und wird meist falsch interpretiert. Oft wird Stockhausens musikalische Arbeit auf den noch streng durchkomponierten Serialismus (nicht zu verwechseln mit dem Minimalism aus den USA) heruntergebrochen, manchmal werden seine frühen Arbeiten mit Elektronik erwähnt, um dann Czukays Musik als diametral entgegengesetzte, frei von Regeln ablaufende Improvisation darzustellen. Doch der Serialismus ist nur ein Gebiet, auf dem sich Stockhausen theoretisch und vor allem praktisch austobte. Experimente, Improvisation, Happenings waren ebenso unerlässlicher Teil seines Schaffens und wesentlicher Einfluss auf Czukay und seine Musik.

Kopfkino im Psycho-Cinema
Das Kling-Klang-Studio in Düsseldorf ist mit der Geschichte und dem Sound von Kraftwerk untrennbar vereint. Mit dem Box-Set »Cinema« wird nun Holger Czukays berühmtem Can-Studio – einem zu einem Tonstudio und einer eigenen Wohnstätte umgebauten Kino – in Weilerswist ein Denkmal gesetzt. Dort, in der Nähe von Köln, wurde nur wenige Monate vor dem Tod von Czukay seine Frau U-She (bürgerlich Uschi/Ursula) tot aufgefunden. Und dort entstanden bis zu seinem Ableben einige der wichtigsten, eindrucksvollsten, einflussreichsten und spannendsten Werke der (deutschen) Musikgeschichte und des Krautrocks. In chronologischer Reihenfolge führt die Box durch das Werk des 1938 in Danzig als Holger Schüring geborenen Holger Czukay. Leider konnte er seine Retrospektive nicht mehr selbst mitveröffentlichen, sie ist also eine Art Nachruf.

Holger Czukay 1983 © Conny Plank

Chronologie des Sounds 1
Wir beginnen mit dem erstmals veröffentlichten Stück »Konfigurationen« des Holger Schüring Quintetts, das Czukay 1960 neben zwei weiteren Stücken im Kölner WDR Studio 7 aufnahm. Ein kurzes, klassisches, schön komponiertes Stück Jazz. Mit Rolf Dammers nahm er neun Jahre später, drei Jahre Studium mit Karlheinz Stockhausen im Gepäck, als Canaxis aka Technical Space Composers Crew die beiden etwa 20-minütigen Tracks »Canaxis« und »Boat Woman Song« auf. Diese frühen meditativen Soundcollagen haben nichts mehr mit dem klassischen Jazz von 1960 zu tun. Sein Gespür für weltmusikalischen, spirituellen Sound wird früh deutlich. Er scheint die kurze Zeit später veröffentlichten Alben der Band Popol Vuh, in deren engem Dunstkreis man sich schließlich mit der im Jahr zuvor gegründeten Band Can bewegt, wenn nicht vorwegzunehmen, so doch sicherlich zu beeinflussen. Die Nutzung unüblicher Instrumente, wie z. B. der Sitar, sind maßgeblich für den Ambient-Sound, und auch der eindrucksvolle Gesang vietnamesischer Sängerinnen auf »Boat Woman« ist beispielhaft für die vielfältigen, interkulturellen Einflüsse. Doch es ist insbesondere Czukay, der wie besessen nächtelang Radio hört und aus dem daraus entnommenen Material die charakteristischen Collagen formt, aus Schnipseln neues Leben schafft. Da stehen auch mal mittelalterliche Choräle neben dem Gesang von James Brown oder Pistolenschüssen und das alles klingt gespenstisch gut. Merke: Die Geschichte des Krautrocks ist eng verzahnt mit der der elektronischen Musik. 1977 nahm man in Conny Planks Kölner Studio eine Kollaboration zwischen Cluster (Moebius, Hans-Joachim Roedelius) und dem Längst-Superstar Brian Eno auf. »Ho Renomo« ist der Opener, und Czukay gastiert als Bassist. Klassik halt.

Chronologie des Sounds 2
Mit dem Album »Movies« von 1979 debütiert Holger Czukay nun solo mit einem krautig-funkigem Art-Rock-Album. Karoli, Liebezeit und Schmidt von Can übernehmen ihre gewohnten Instrumente, der Ghanaer Perkussionist Reebop Kwaku Baah spielt Orgel und Czukay selbst kümmert sich um den Rest und tausend andere Sachen (Gesang, Keyboard, Synthesizer, Bass, Elektronik, Komposition, Aufnahme, Produktion etc.). Alberne Samplings, 70s-Synths, Czukays denglisierter Gesang, verrückte Mischungen von vielerlei Musikrichtungen, mal besser, mal schlechter dilettiert. »Cool in the Pool«, funkigster und gewagtester Track, gibt Auskunft über Czukays Gemütszustand. Die Lage ist hoffnungsvoll, aber nicht ernst. Get cool now!

Holger Czukay 1983 © Conny Plank

Chronologie des Sounds 3
Mit Conny Plank brachte Czukay die Formation Les Vampyrettes ins Leben. »Menetekel« ist eine Spoken-Word-Performance mit Industrial-Sound von der einzigen Single »Biomutanten« (1980). Wieder in eine songorientierte Richtung geht es in der »Kollaboration« mit der japanischen Avant-Post-Punk-Pop-Whatver-Künstlerin Phew alias Hiromi Moritani. Auf dem Song »Signal« des Debüts von Phew sind neben Czukay noch Plank und Liebezeit zu hören. Schöne Kraut-Punk-Minimal-Wave-Sache, von der man gerne mehr gehört hätte. Gibt es auch, denn die drei gastieren auf dem ganzen Album von Phew. Der Rest der A-Seite und ein Großteil der B-Seite wurde für Czukays zweites Soloalbum, »On the Way to the Peak of Normal« von 1981 benutzt. Hier handelt es sich um ein krautig-dubbiges Rockalbum, das wesentlich ruhiger daherkommt, doch eindeutig fokussierter und weniger eklektisch, dafür homogen und einheitlich. Entspannte/entspannende Musik für alle vier uns bekannten Jahreszeiten. Die letzte Nummer ist ein Song der »Full Circle«-Platte von Czukay, Liebezeit und Jah Wobble, dubbiger 80s City Pop. Stabil.

Chronologie des Sounds 4
Auf der vierten Platte geht es weiter mit Songs von »Full Circle«. Aus Czukays Post-Can-Kanon bisher eines der überzeugendsten Ergebnisse, unscheinbar, funktioniert als Hintergrundmusik, aber auch zum Deep-Diven. Mit »Der Osten ist Rot« (1984) und »Rome Remains Rome« (1986) veröffentlichte Czukay zwei Soloalben, die nicht zu seinen stärksten Arbeiten gehören. Sein Gesang auf dem 1984er-Synthpop-Album ist eher durchschnittlich, und instrumentell passiert auch nicht viel Aufregendes. Zumindest tanzbar ist es, zum Beispiel bei »Der Osten ist Rot«, mit Blasorchester-Einarbeitungen und einem grandiosen Schlagzeug. Das wiederum überzeugt. Das folgende »Das Massenmedium« erinnert zeitweise an die Musik von David Sylvians Japan (mit selbigem wird Czukay später zwei Alben aufnehmen, die zu den besten unter seinem eigenen Namen veröffentlichten gehören, und ebenfalls gerade auf Grönland Records neu herausgebracht wurden. Am besten sind bei den beiden Veröffentlichungen die Dub-Krautrock-Instrumentalstücke, die Vocal-Segmente wirken doch zu oft überdreht oder fehl am Platz. Der Song »Perfect World« wird von Sheldon Ancels Stimme unterstützt und bildet dahingehend eine Ausnahme.

Holger Czukay 1983 © Conny Plank

Chronologie des Sounds 5
Czukays Gesang gerät in den Hintergrund, es ist alles etwas jammiger. Entspannter Krautrock. Doch wenig bleibt hängen. Die Songs sind einfach nicht konsistent gut. Zwischen 1993 und 2003 wird kuratorisch eine Pause gemacht, die Alben »Moving Pictures« und »Good Morning Story« beispielsweise werden ausgelassen. Warum wird nicht gesagt. Die letzte Seite zeigt dann nochmal unveröffentlichte Sachen und Ergebnisse aus seiner Zusammenarbeit mit Lebensgefährtin U-She. Trip-Hopige Nu-Age-Musik. Wenig aussagend. Ebenso »La Premiére« und »21st Century«, ein wenig auffälliger. Der Song »Mandy« der Band Bison, mit der Czukay neben U-She, Ben Smith, Paul N. Murphy und Salvatore Principato 2014 das Album »Travellers« aufnahm, zeigt noch einmal eine Variante seiner Krautigkeit: nun Disco-Funk und ein schöner Abschluss der Sammlung. Anbei noch eine Scheibe PVC mit Videoaufnahmen, eine sogenannte VinylVideo-Platte. Mithilfe einer speziellen, nicht enthaltenen Maschine kann man in Vinyl geritzte Videos mit 8 frames per second auf dem Fernseher abspielen. Interessantes Gimmick, ein Blick auf Entwickler Gebhard Sengmüllers YouTube-Kanal gibt Aufschluss über diese Spielerei.

DVD Michael Meerts: »Krieg der Töne«
In dem 1988 erstveröffentlichten sogenannten Videomusical von Michael Meert kann man dem kauzigen Albert Einstein der Musik in der Rolle des kauzigen Albert Einsteins der Musik erleben. Richtig gelesen: Holger Czukay spielt sich selbst bzw. den Bassisten, Musikinstrumentenexperten, Nutella-geilen Musiker und Amateurlehrer Professor Czukay. Der soll einem jungen Mädchen für 80 Mark die Stunde Klavierunterricht geben, wenn es nach der autoritären, reichen Frau Mutter geht, für die ihre Tochter den »Super Sound«-Musikwettbewerb gewinnen soll. Stattdessen wirft Czukay mit bluminösen Musikerweisheiten um sich: »Deine Musik hat kein Berg und kein Tal. Du musst aus dem Stück eine musikalische Landschaft machen«, versucht er sich auf antiautoritäre aber strenge Art und Weise an einer alternative Lehrform, indem auf allen möglichen Gegenständen herumgeklimpert wird (Vasen z. B.), wodurch das Verständnis von Musik erweitert werden soll. Und das steckt an. Das Mädchen flieht kurz darauf vor ihrer Mutter ins Czukays Studio, wo Klangcollagen entworfen werden und diese neue Form der Musik entsteht. Milchige, spacige Effekte fangen die experimentelle Stimmung der 1970er-/1980er-Jahre ein. Videoausschnitte der Band Can und Raumfahrtaufnahmen fließen ein. Und dann ist da noch die seltsame Frau in Rot. Als die völlig überforderte Polizei eintritt, um Festnahmen wegen Marihuana-Besitzes durchzuführen, verheddern sich die Beamten bei der Verfolgungsjagd in einem Wuling aus Tonbändern. Und alles kommt wie es kommen muss … Ein witziges, kurzweiliges Low-Budget-Spektakel, das vor allem damit punkten kann, dass Hauptdarsteller Czukay auf witzige Weise das anarchische Flair und die Arbeitsweise des Krautrock-Pioniers Czukay einfängt. Das gelingt hier auf (ungewollt?) spaßige Weise. Stephan Remmler vs. Holger Czukay, inkl. Verhedderung in Tonbandwusel.

https://www.youtube.com/watch?v=ZnOHntCuSsI

Also, das Fazit
Die Box hat ihre Höhen und Tiefen. An der Aufmachung ist nichts auszusetzen. Sie ist wunderschön. Die Bilder im beigelegten Booklet sind fantastisch. Auch die Texte/Nachrufe von u. a. Diederich Diederichsen, Irmin Schmidt oder David Sylvian sind rührend und süß, zweifellos. Problematisch ist nun aber, dass man Wesentliches, also konkret aus den vielen Arbeiten mit David Sylvian, in dieser Sammlung gar nicht zu hören bekommt. Wesentlich, weil es Czukays Fähigkeit, eindrucksvolle Bilder durch Sound-Collagen zu schaffen, in der einzigartigsten Zusammenarbeit mit dem großartigsten Sylvian hätte zeigen können. Diese wirken weniger abgedreht, klingen weniger nach Nu Age und hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Auch ist die besagte Lücke zwischen 1993 und 2003 nicht ganz nachvollziehbar, Erklärungen für die Auswahl fehlen, während manche Stücke – klar, Geschmackssache – auch ausgelassen hätten werden können (die Alben von 1984 und 1986 sind eher schwach und überrepräsentiert). Es hätten vielleicht mehr Superlative fallen können. Nichtsdestotrotz. Es lohnt, sich durch die Masse an Musik zu hören, denn Perlen sind dabei, und das nicht wenige.

»Mach sofort die Musik aus, sonst bekomm ich ’nen sentimentalen Anfall.« (Professor Czukay in »Krieg der Töne«)

Holger Czukay: »Cinema« (Box-Set, Grönland Records)

Link: https://www.groenland.com/product/holger-czukay-cinema/ 

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