© Kathi Arnecke
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Österreich braucht seinen Kanzler

skug schickt einen Undercovermitarbeiter auf den österreichischen Campaign Trail und stellt die Lauscherchen auf. Ob bei Spitzenpolitik oder auf der Straße unter den Wähler*innen zeigt sich: Die Stimmung war schon einmal besser im Land, das in einer Art »Kulturkampf« feststeckt.

Im Nationalratswahlkampf des Jahres 2019 verzerrt sich das Angesicht Österreichs zu einer Fratze. Jahre dummdreister politischer Manipulation haben die Menschen offensichtlich ausgelaugt. Eine Straßenszene in Wien: Die zierliche Abgeordnete einer – na ja – linken Partei verteilt ihre Flyer und möchte mit den Menschen »in Beziehung treten«. Denen ist das aber zu viel. Die wenigen Gespräche, auf die man sich einlässt, scheinen nur ein Thema zu kennen. Nach der Tirade einer Passantin fragt die Abgeordnete vorsichtig nach: »Sie würden also Menschen in ein Kriegsgebiet zurückschicken?« – »Da is ka Krieg!« blafft es zurück. Verstanden, alles was nicht passt, ist Fake News und die Fakten, die man braucht, um die eigene Weltsicht zu untermauern, darf man sich kurzerhand ausdenken.

Diese Herangehensweise haben die Leute nicht erfunden, die haben sie sich abgeschaut. Genauso agiert heute »erfolgreiche« Politik. Sie packt die Menschen bei ihren Emotionen. Viele Passant*innen sind frustriert und haben sicherlich auch gute Gründe dafür. Aber die Unzufriedenheit ist oftmals gesichtslos und unbestimmt. Deswegen bieten schlaue Demagog*innen Kondensationsflächen. Sebastian Kurz spricht davon, »unsere Kultur« verteidigen zu wollen, und trifft damit den Nerv. Die Kultur ist das Gestern, das es nie gegeben hat, und das uns jetzt »geraubt« wird. Eine andere Frau sagt zu der wahlkämpfenden Abgeordneten im Wiener Flächenbezirk, früher sei eben alles besser gewesen, heute aber würden die Sitten verfallen. Man sähe dies an den ganzen Kopftuchträgerinnen und ihr Mann schenke ihr nicht einmal mehr etwas zum Muttertag. Ganz klar, der Islam ist einfach an allem schuld.

Unsere Identität
Den rechten Wahlkämpfern Kurz und Hofer fehlt eigentlich nur mehr die Tiki-Fackel in der Hand. Die Argumentationslinie der Südstaaten-Killer aus Charlottesville hat man weitgehend übernommen. Es gäbe einen »großen Bevölkerungsaustausch« (der kurzzeitig in Ungnade gefallene und an seiner Resurrektion arbeitende HC Strache benutzte explizit diese Formulierung), dunkle Mächte wollten »uns« »unser« Land nehmen, »wir« dürften nicht mehr leben, wie wir so leben, wie wir es gewohnt sind und wie wir es von unseren Urgroßvätern gelernt haben. Dieser Unsinn wäre vor einigen Jahren noch als rechtsradikaler Darmwind energisch bekämpft worden, heute ist er Mainstream. Rechtsradikale testen unaufhörlich aus, wie weit sie bereits gehen dürfen. Gut, ein Rattengedicht ist natürlich zu viel, aber unentwegt zu betonen, dass einem »die österreichische Identität« am Herzen liege, das ist von der rechten bürgerlichen Mitte bis zu den identitären Rechtsradikalen ein Konsens. Die Kernaussage, das Fremde sei gefährlich und minderwertig, wird auch ohne Nagetiermetapher verstanden und deswegen geht man Anfang September in Wien tatsächlich mit Fackeln auf die Straße, um an den Sieg über die Türken vor dreihundert Jahren zu erinnern. Ein selektives Geschichtsbewusstsein ist typisch für Austria 2019.

Während Außengrenzen verteidigt werden, beginnen andere Grenzen zu verschwimmen. Die ÖVP, deren Abtrünnige Ursula Stenzel jetzt bei der FPÖ mitmischt und bei der rechtsradikalen Demo in Wien sprach, findet Identität supa, aber das Identitäre dann doch zu schiach und will sogar die Identitären-Bewegung verbieten. Recht so, nur von deren Zielen distanziert man sich eben nicht. So funktioniert Herrschaft: Muslim*innen müssen sich laufend von islamistischen Selbstmordattentäter*innen distanzieren, ihre Religion und ihre Lebensweise gerät dabei in Verdacht und sie werden argwöhnisch beäugt. Aber Konservative müssen kaum je inhaltlich zu den rechtsradikalen Attentätern Stellung beziehen, die mit ihren Morden die Welt in Atmen halten. Die kritischen Nachfragen sind höchst selten, ob die in den wirren Pamphleten der Killer artikulierten Sorgen vor Überfremdung nicht mit manchen Politiker*innenaussagen deckungsgleich sind. Wer im konservativ-bürgerlichen Milieu stellt sich laut die Frage, ob die Angst vor dem Fremden und das Schüren dieser Sorgen an sich falsch sein könnten?

Vielmehr schneidet die Ausländer- und Identitätsfrage wie ein Messer durch die gesamte Politik des türkisen Kanzlerwahlvereins. Jedes Thema wird sogleich auf Migration, Schutz der europäischen Außengrenzen, den politischen Islam, die österreichische Identität und dergleichen gebracht. Bildung: Deutschklassen! Mindestsicherung: nur wenn österreichische Kultur akzeptiert wird! Außenpolitik: Härte gegen Erdogan! Wo soll diese Entwicklung, die medial nach ständiger Eskalation verlangt, enden? Abgabe von Winterreifen nur mehr gegen Ariernachweis? Die ÖVP unterscheidet sich hier kaum mehr von der FPÖ, die tatsächlich kein anderes Thema kennt und sich nur halbherzig zu anderen Fragen äußert. Die Wahlkämpfer*innen auf Wiens Straßen bekommen dies zu spüren. Passant*innen fragen, warum die Parteien nicht Quoten gegen Ausländer erlassen und beim Gemeindebau, im Kindergarten und in der Schule einfach »besser auswählen« würden. Die Schlussfolgerung ist auf verquere Weise nachvollziehbar. Wenn Ausländer und überhaupt alles Fremde ein Problem sind, warum tut man dann nichts dagegen? Niemand mag Verbote, aber wenn es »die« trifft, dann ist das sicherlich eine gute Lösung. Die konservativen und rechten Parteien haben einen Kulturkampf ausgerufen und dem wird alles untergeordnet. Die Folgen sind verheerend.

Die Probleme bleiben außen vor
Österreich, Europa und die gesamte Welt stehen vor komplizierten Herausforderungen. Allein die Klimakrise, aber auch ein dysfunktionales Finanzsystem, das kurz vor dem Kollaps steht, die aufziehenden Handelskriege, die extreme Ungerechtigkeit durch ungleiche Verteilung des Reichtums, die technologischen Entwicklungen, insbesondere in der Massenkommunikation, deren Folgen noch schwer abschätzbar sind und dergleichen mehr. Die Probleme sind kompliziert, die Lage ist verworren und widersprüchlich. Die Schwierigkeiten auch nur einmal darzustellen, ist ein mühseliges Unterfangen, und somit ist eine öffentliche Debatte über die politischen Herausforderungen anspruchsvoll. Die weltweiten Reaktionen: Trump, Johnson und Kurz. Deren Schmäh: Einfach nicht ansprechen. Sei es, weil man es selbst nicht überreißt oder weil man weiß, dass das nicht gut ankommt. Stattdessen Ausländer und immer wieder Ausländer, Mauerbau, Brexit und Schließen der Balkanroute sind die unaufhörlich propagierten Scheinlösungen.

Folglich wird die öffentliche Diskussion gekappt. Die Ausländerfrage sticht alles andere aus. Hier ist keine Assoziation zu verstiegen und kein Argumentationsweg zu weit. Wenn FPÖ-Spitzenkandidat Hofer zusätzliche Milliarden für das Militär fordert, dann deswegen, weil er eine Pro-Erdogan-Demonstration in Wien gesehen haben will, bei der die Türken in »Regimentsstärke« in der Innenstadt aufmarschiert seien. Dass die Demonstrant*innen zum nicht unwesentlichen Teil österreichische Staatsbürger*innen waren, dass sie unbewaffnet waren (während Hofer stolz drauf ist, stets die Puffn im Schulterhalfter mitzuführen), dass Menschen aus unterschiedlichen Gründen auf eine Demo gehen. (Es ging damals um die – sicherlich hochproblematische – Unterstützung Erdogans, anlässlich des Putschversuchs in der Türkei 2016, bei dem zu dem damaligen Zeitpunkt aber unklar war, von wem dieser durchgeführt wurde und das »vom Regen in die Traufe«-Argument war sicherlich noch aufrecht). Dass die Absicherung von Demonstrationen Polizeiaufgabe ist und niemals die des Militärs, all das ist Norbert Hofer wurscht. Er malt das Bild des von Türken belagerten Wiens an die Wand und ruft zwar nicht zu den Waffen, aber zur Aufstockung des Militärhaushaltes. Wer sich so rhetorisch sammelt, geht mit Tiki-Fackel voran.

Die ÖVP nutzt diese Stimmungslage, in der Angst herrscht, weil Angst geschürt wird und gedenkt, die Lage autoritär auszunützen. Der Strahlemann Kurz, der zu den Skandalen seiner letzten Regierung nur milde lächelt, soll als Kanzler führen, mit »Härte« schützen und in all der Unübersichtlichkeit »Klarheit« schaffen, indem er seinen Followers erlaubt, vor den wahren Problemen und Schwierigkeiten die Augen zu verschließen. Konservative, die doch leise Zweifel hegen, ob nicht die Probleme einmal angegangen werden müssten und ob der ganze Identitätszinnober nicht doch nur eine Nebelgranate ist, bekommen eine Steuerreform vor die Futterluke und beim Geld hört bekanntlich alles Denken auf. Tausendfünfhundert mehr im Jahr? Okay, passt schon, Kurz ist unser Kanzler.

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