Rasmus Engler und Jan Müller © Hans Scherhaufer
Rasmus Engler und Jan Müller © Hans Scherhaufer

»Nostalgie ist uns fremd«

Jan Müller (Tocotronic) und Rasmus Engler (Herrenmagazin, Gary) legen mit »Vorglühen« einen Roman über Freundschaft, Liebe und Identität vor. Müller sprach mit uns über den Entstehungsprozess und das Hamburg der 1990er-Jahre.

Ob Tullnerbach oder Paderborn, Döbeln oder Lustenau, egal woher sie kommen, die meisten jungen Menschen zieht es irgendwann in die Großstadt und raus aus dem Dunst der Kleinstadt. Alte Gefährt*innen bleiben oftmals auf der Strecke, aber vielleicht ist das unbewusst auch gewollt, wegen »Unangenehme-Erinnerungen-hinter-sich-Lassen«, weil in der Pubertät eh alles scheiße ist und kaum irgendwas je so richtig funktioniert hat. Herkunfts- und Zielorte sind also im Grunde austauschbar, der Wechsel ist das Ziel, meist sind es logischerweise größere Städte, die angepeilt werden, Ballungsräume Ähnlichgesinnter. Beispiel: Wien, wie beim Autor dieses Textes. Oder auch: Hamburg, wo es Albert Bremer, Protagonist des Romans »Vorglühen« von Tocotronic-Bassist Jan Müller und Herrenmagazin- bzw. Gary-Schlagzeuger Rasmus Engler hinzieht und wo er die typischen Erfahrungen – neue Wohnung, Job, Studium, neue Menschen – macht.

Die Fast-400-Seiten-Geschichte wird von verschiedenen Handlungssträngen getragen, die jeweils bis zum Ende die Spannung aufrechthalten: die Karriere der Band mit absurden Streitereien über den passenden Namen, Querelen im Freundeskreis, belastendes Wohnungs-Hin-und-Her und die Liebesbeziehung Bremers zu Diana. »Vorglühen« changiert zwischen urkomisch und todtraurig. Nicht selten findet man sich vor Mitgefühl mit den Unsicherheiten und Sehnsüchten des Protagonisten in der eigenen Vergangenheit (oder Gegenwart) wieder oder aber man labt sich genüsslich an absurden Situationen, Wortspielen oder Charakteren, gefärbt im Hamburger Lokalkolorit. Jan Müller fand während der Tour mit Tocotronic (Support: Nichtseattle) in Berlin Zeit für ein Gespräch.

skug: Nun habt ihr schon einige Lesungen hinter euch und das Buch ist schon ein paar Wochen draußen. Wie sind die Reaktionen bisher?

Jan Müller: Wir sind sehr zufrieden! Wir hatten drei Lesungen, eine beim Radioeins Parkfest, eine im Pfefferberg-Theater Berlin mit Ilona Hartmann und dann eine in Hamburg mit Robert Stadlober und Live-Musik von der von mir heiß und innig geliebten Band Swutscher. Beide Varianten waren sehr schön. Das Tolle an Musik ist ja, dass man bei Konzerten immer direktes Feedback vom Publikum bekommen kann, bei Büchern ist das ja anders. (lacht) Das liest ja jede*r für sich. Ich hab’ mich auch immer gefragt, was eigentlich der Sinn von Lesungen sein soll. Das ist dann so ein Event, das gar nicht unbedingt nötig ist. Aber …­

Jetzt weißt du es!

Jetzt weiß ich es! Und das ist schön, und vor allem ist es schön, dass ich das mit Rasmus gemeinsam machen kann. Wir teilen uns ja die Leseparts, und dann kann man auch mal zuhören. Jemandem etwas vorzulesen, ist ja ohnehin eine sehr schöne Sache. Und ich war sehr beeindruckt, dass die Leute so aufmerksam waren und auch wirklich zuhören. Das erfordert ja heutzutage schon viel.

Gehen wir doch nochmal einen Schritt zurück. Wie kamt ihr überhaupt auf die Idee, das Buch zu schreiben?

Die Idee entstand Ende 2019. Ich hatte zuvor schon ein paar Versuche gemacht, was zu schreiben, ein paar Erzählungen, erst während des Schreibens stellte ich fest, dass diese kurze und verdichtete Form der Erzählung die allerschwierigste Disziplin ist. Ende 2019 kamen Rasmus und ich auf die Idee, es gemeinsam zu probieren. Wir sind schon sehr lange und eng befreundet. Wir haben gemeinsam schon viele musikalische Projekte in die Welt gesetzt, die jedoch, seit ich nicht mehr in Hamburg lebe, logistisch schwierig durchzuführen waren. Die Idee des Romans stand da noch gar nicht so im Vordergrund. Die erste Idee war, dass wir den Fokus auf das bemerkenswerte Haus in der Talstraße 24, wo sich die WG des Romans befindet und auch unsere WG damals befand, setzen wollten. Wie vom Schicksal geschickt, lernten wir dann Daniel Wichmann, unseren jetzigen Agenten kennen. Er hat uns geholfen, mit unseren Ideen konkreter zu werden. Überhaupt hat er uns erst dahin gebracht, zu erkennen, dass ein Roman, Fiktion die richtige Form für uns beide ist.

Wie lief das ab, das Zu-zweit-Schreiben?

Wir haben uns erstmal zusammengesetzt und unterhalten und uns einfach an unsere Vergangenheit erinnert. Und dann haben wir angefangen, uns die Handlung zu überlegen. Sehr viel Zeit haben wir auf die Zeichnung der Protagonist*innen verwendet. Wir haben überlegt, was könnten das denn für Typen sein. Und diese sogenannten »Grübeltreffen« haben wir in regelmäßigen Abständen wiederholt. Wir haben den Zeitstrang erstellt. Die Handlung erstreckt sich ja nur über wenige Monate. Wir haben dann die Kapitel verteilt, die hat jeder für sich alleine geschrieben. Der eigentliche Prozess des Aufschreibens geschah also alleine. Beim Schreiben kommt dir natürlich einiges in den Sinn, über das man vorher nicht gesprochen hat. Wenn man in diesen Flow kommt, das ist schon sehr faszinierend. Unerwartete Ideen kommen einem in den Sinn und die Protagonist*innen entwickeln irgendwann ihren eigenen Willen. Das erreicht teilweise anarchische Dimensionen, glücklicherweise. Sonst wäre das Schreiben ja auch ein sehr, sehr nüchterner Prozess.

Und die Figuren sind alle so kleine Schnapsideen?

Schnapsideen, ja, vielleicht. Vor allem bei den Nebenfiguren haben wir uns aber sehr von unserem Bekanntenkreis inspirieren lassen. Die Hauptfiguren hingegen haben wir uns in weiten Teilen komplett ausgedacht. Nur die Wirklichkeit abzubilden, wäre uns zu fantasielos gewesen. Dennoch: Manches von dem, was sich im Roman ereignet, ist auch wirklich passiert.

Das kann man sich teilweise ja auch wirklich nicht ausdenken.

Und manches ist halt überhaupt nicht passiert. Wir sind nach einem Schema vorgegangen, das ich leider auch nicht erläutern kann, denn es ist mir selbst nur intuitiv klar. Welche Bands es gibt und welche nicht und so. Wir hatten da so ein Gefühl, wie das zu sein hat.

Jan Müller © Hans Scherhaufer

Im Kern ist es eine Coming-of-age-Story, die ortsungebunden ist. Aber sie spielt doch sehr mit dem Lokalkolorit Hamburgs. Was macht die Stadt für euch aus?

Das Hamburg der 1990er-Jahre, vor der Digitalisierung, vor der totalen Gentrifizierung, halten wir für eine erzählenswerte Kulisse. Im Idealfall würde ich mir natürlich wünschen, dass diese Geschichte auch in einem anderen Setting möglich wäre. Neben dem Coming-of-age-Aspekt ist es auch einfach eine Geschichte über Freundschaft. Aber vor allem hatten wir einfach Lust und Spaß daran, in der Zeit zu reisen, in das Hamburg jener Jahre. Es war sehr schön, dass Rasmus und ich diese Gedankenreise zu zweit unternehmen konnten. Für uns beide war für manches eine gewisse Abstraktion nötig. Rasmus ist zum Beispiel erst fünf Jahre später nach Hamburg gezogen, 1999. Und ich bin in Hamburg geboren und nie wie Albert Bremer (Anm.: Protagonist des Romans) vom Land in die Stadt gezogen.

Und habt ihr euch unter ähnlich rabiaten Umständen kennengelernt wie die Leute im Buch?

Unser erster gemeinsamer Abend war tatsächlich ziemlich ähnlich wie der Anfang des Romans. Wir starteten unsere Freundschaft mit einer rabiaten Kneipentour. Und ähnlich lebhaft haben wir dann teilweise auch zusammen gelebt. Mein Leben hat sich mittlerweile sehr geändert. Ich habe Familie und es wäre ja ohnehin total traurig, wenn sich in all den Jahren nichts geändert hätte. Das gilt selbstverständlich auch für Rasmus. Es war schön, sich an diese Zeit zurückzuerinnern, aber Verklärung und Nostalgie ist uns fremd … Bei Lektüre der ersten 40 Seiten könnte man vielleicht denken, dass es nur ums Saufen und Feiern geht. Doch es war uns auch wichtig, Ambivalenzen abzubilden, die sowohl Rasmus als auch ich immer gehabt haben. Und natürlich ist »Vorglühen« auch eine Liebesgeschichte.

Ich hab’ mich gefragt, ob der Titel von euch kommt. Gesoffen wird schon, aber gar nicht »vor«. Im Grunde steht er ja für viel mehr …

Die Idee kam tatsächlich von unserem Agenten und unserer Lektorin. Ich war zunächst skeptisch, wie dumm! Denn »Vorglühen« ist ein fantastischer Titel. Vorglühen hat zunächst ja diese drei Bedeutungen: Was das Trinken betrifft, einen alten Dieselmotor starten und einen Röhrenverstärker in Gang setzen. All drei kommen auch im Buch vor. Aber für mich spielt eine weitere Bedeutung die tragende Rolle: Alberts selbstbestimmtes Leben steht am Beginn. Er hat noch viel vor sich. Was das ist, ist ihm und dem Leser bzw. der Leserin ungewiss. Der Roman hört dann auf, als die Band ihren ersten Erfolg bei einem Konzert feiert. Ich mag den Titel »Vorglühen« auch, weil er erst auf eine falsche Fährte führt. So haben wir uns das damals auch bei unserem Bandnamen Tocotronic gedacht. Wir fanden es damals super, dass unser Name die Menschen glauben machte, wir machen elektronische Musik.

Aber trotzdem scheint dich ja dieses Thema des Erwachsenwerdens, der Sinnsuche, der Sozialisation doch irgendwie zu verfolgen. In deinem Podcast »Reflektor« führst du ja auch Gespräche über die musikalische Sozialisation. Wie steht da der Roman dazu?

Ich bin jetzt 51 Jahre alt und im Rückblick auf mein bisheriges Leben beschäftigen mich die Themen Schicksal und Zufall. Auch bei meinen Gästen im Podcast interessiert es mich, wieso sie den jeweiligen Weg eingeschlagen haben. Warum ist eine Person zu der geworden, die sie ist? Warum ist diese Frau eine Rapperin und jene singt Chansons? Warum singt jener in einer Metal-Band und ein anderer begleitet sich spartanisch mit einer Akustikgitarre zu seinem sanften Gesang. Was führte dazu? Wann werden Weichen für Lebenswege gestellt? Auch im Roman ist das ein Thema. Was wir bei »Vorglühen« beleuchtet haben, ist, wie wenig Anteil des Selbst teilweise in Biografien steckt. Unser Protagonist Albert ist ja doch irgendwie ein sehr passiver Typ, der in vieles reingeschubst wird. Irgendwann hat er dann eine Krise und entdeckt sein Talent. Warum das in ihm steckt, ist ja da noch gar nicht erklärt. Vielleicht noch nicht erklärt? Das ist ein Thema, das mich sehr interessiert, wieso Leben den Lauf nehmen, den sie nehmen.

Frauen sind im Buch eher Nebenfiguren, dann aber wesentlich gescheiter und übernehmen Verantwortung.

Ich würde mal sagen, das entsprach der Realität der frühen 1990er-Jahre in diesem Umfeld, das ich erlebt hab’. Weil viele der Männer einfach Angeber oder Platzhirsche waren. Wir haben uns sehr viel Mühe mit der Konstruktion der Frauenfiguren gegeben, denn es ist als Mann natürlich schwieriger, über eine Frau zu schreiben, als über einen Mann, das ist ja klar. Die Diana (Anm.: Geliebte von Albert) ist mir dabei sehr ans Herz gewachsen und auch die Frau Balzac. Sie sind beide sehr klug. Uns war klar, dass der Geschlechter-Aspekt in der Rezeption beleuchtet werden wird. Es war uns beiden sehr wichtig, keinen Jungs-Roman zu verfassen. Aber andererseits hatten wir den Anspruch, den Geist der damaligen Zeit wiederzugeben, ohne etwas zu beschönigen. Wir wollten keine Geschichtsklitterung betreiben.

Ich fand schön die Darstellung der Riot-Grrrl-Band, der krassen Frauen, die selbständig ihr Ding machen. Wesentlich professioneller und mit weniger Drama als die Typen.

Ich glaub’ trotzdem, dass das Thema Band traditionell eher eine männliche Leserschaft anspricht. Die etwas nerdigen. Ich wünsche mir natürlich, dass es diese Kategorien nicht mehr gibt. Und ich wünsche mir, dass es für »Vorglühen« nicht zutrifft.

Um nochmal zum Anfang zurückzukommen: Macht dir das Schreiben Spaß? Ist es etwas Kathartisches, nagst du an der Vergangenheit? Oder ist sie stete Inspiration?

Ich glaube, ich bin ein Mensch, der durchaus an eigenen Fehlern und einigen Ereignissen in der Vergangenheit genagt hat. Und es gab sowohl für Rasmus als auch für mich ganz unabhängig voneinander auch unglückliche Zeiten. Ich bin froh, viel von dem hinter mir gelassen zu haben. Das Schreiben war für mich daher auch weniger Katharsis als Rückbesinnung. Uns war wichtig, im Roman eine gewisse Leichtigkeit zu haben. Ohne vermessen sein zu wollen: Beim Lesen merke ich, da ist viel von dem drin, was ich selbst mag, ohne mich beim Schreiben überhaupt daran orientiert zu haben. »Der Fänger im Roggen«, Wolfgang Welt, Werner Enke und ein Schuss »Der Trinker« von Hans Fallada. Aber: Wir wollten kein Problemwerk schaffen. (lacht)

Jan Müller, Rasmus Engler: »Vorglühen«. Ullstein, 384 Seiten, € 21,99.

Link: https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/vorgluehen-9783550201493.html

 

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