Bereits ihre frühen Spaßpunk-Missverständnis-Lieferungen erschlossen sich erst über ihren Kontext: den Protestantismus von Polit- und den Existenzialismus von Kaputtpunk, denen der progressive Regress auf Trash, Schlager und Lustprinzip vor die Nase gesetzt wurde. Die launige Einfachheit der frühen Goldenen Zitronen war also im Kern ganz schön kompliziert, und erst eine feuchtfröhliche Fehlrezeption hat das wieder zur Zielgruppenbespaßung runtergerechnet und zum Genre (»Fun Punk«) verödet. Aus dem, was sich ihnen hierfür als Publikum an- und darbot, zogen sie andere Konsequenzen als die gleichursprünglichen Toten Hosen, die sich zum Deutschrockdauerbrenner und zur SPD-Version von Aerosmith abwrackten. »Fuck you« und »Punkrock«, die gerne unterschätzten LPs der frühen 1990er, fanden dagegen Trost und Zuflucht bei Pop und coolem Wissen. Popintelligenz durfte sich damals noch als entspannte Version der Bewegungslinken fühlen und das kulturelle Abseits mit notdürftig zusammengezimmerten Freiräumen und verträumten Halbkarrieren wohnlich machen. Die Resignation über die Stabilität der Verhältnisse wog der Glaube auf, sich auf die humanistischen und emanzipatorischen Standards verlassen zu können, die während der 1970er als Bestandteil des bürgerlichen Burgfriedens ausgehandelt worden waren. Zwar verpufften die regelmäßig in Realweltverhältnissen, zeigten aber immerhin guten Willen. Bis sie dann zerbröselten.
Einer muss den Job ja machen
Mit den rassistischen Mordwellen der 1990er wurde klar, dass auf bürgerliche Öffentlichkeit kein Verlass sein kann. Die Popmilieus mussten sich entscheiden: Politisieren oder doch lieber gleich ein lauwarmes, windgeschütztes Plätzchen in der Gesamtscheiße suchen? Die meisten fuhren erst mal zweigleisig. In dieser Situation skizzierte »Das bisschen Totschlag« 1994 Umrisse eines dritten Weges: Bezog Stellung, strich die an Beliebigkeit grenzende Vieldeutigkeit von Pop durch, verzichtete aber nicht auf einen komplizierten, sich aus zahllosen ästhetischen »Wenns« und »Abers« zusammenraufenden Sound. Die alten Erfahrungen von Punk, Beat und Cool verkeilten sich mit den neuen von HipHop, Techno, Avantgarde und (Free) Jazz. Das Titelstück benannte zwar noch ein »die« (und konstruierte so das warenförmige »Wir« politisierter Rockidentität), dies aber – im Unterschied zum »Nazis raus!«-Reflex von Punkrefrainempörung – als Beschreibung neonationaler bürgerlicher Beschwichtigungsversuche. Das war keine restlinke Selbstvergewisserung, die an stadtimagepanischen »Bunt statt braun«-Schwachsinn grenzte, sondern der Versuch, über die Erkenntnismöglichkeiten der Songform zu erarbeiten, was da gerade passierte. Und: Es war den Zitronen anzuhören, dass sie sich in der neuen Rolle nicht unbedingt wohl fühlten. Alles klang gehetzt und aufgeschreckt aus seiner Parallelgesellschaftsgemütlichkeit. Kein Politrock also, der es immer schon gewusst hatte, sondern Diskurspop, der sich selbst zur Disposition stellte. Auch wenn er den akademischen Umrissen seines Begriffs erstmal noch misstraute.
Haltung’n’Style
Das war graduell neu: Politische Musik, aber in kompliziert. Ohne Heilserwartungsdruck. Unsicher und trotzdem mit eindeutigen (und dann doch wieder manchmal lustvoll verworrenen) Aussagen. Die Zitronen hatten sich neu-, aber nicht umerfunden. Sie behielten den angeheiterten Namen, und Kameruns Lausbubengesicht wurde zum Mündungsrohr für schlaue Statements. Die Außendarstellung verstrahlte weiterhin bohemistisch-hedonistische Lässigkeit, die ihre Hauptinteressen in »Koks und ihre Frisuren« investierte (wie Tilmann Rossmy ihnen vorwarf), sich dabei aber in einer nicht-beliebigen Weise auf (linke) Politik bezog. Und das in einem dreifältigen Sinne: als Unhintergehbares, als Forderung und als Zitat. Alles gleichzeitig und ständig wieder von den tektonischen Kräften massenkarambolierender Widersprüche durcheinander geworfen. Mit »Economy Class« wurden sie dann ein – auch im Sound erkennbares – Kollektiv, das sich quer durch Popgeschichte kollaborierte. »Die Entstehung der Nacht« schaltet nun Mark Stewart (Pop Group), Michaela Mélian (FSK), Melissa Logan (Chicks on Speed) und Jakobus Siebels (JaKönigJa) zu, VertreterInnen grundverschiedener Positionen, die der Glaube an die wie auch immer verstörte Vereinbarkeit von Haltung und Stil zusammenschweißt.
Haltung und Stil sind die zwei Seiten der Popmedaille. Als Pop zur Staatsräson wurde, begannen sie auseinanderzudriften, um sich in unbefriedigenden Soloprojekten selbst zu verwirklichen. Die Goldenen Zitronen wollen dagegen wieder die alte Dialektik einfädeln, in der Haltung ein anderes Leben fordert, von dem der Stil schon ein Vorschein sein möchte. Beide finden natürlich zu keinem versöhnten Happy End. Die Zitronen sind keine politische Band mit ausgeprägtem Stilempfinden, sondern immer mindestens zwei (wahrscheinlich aber eher fünf) Bands: eine Stil- und eine Politgruppe, die sich ineinander verbissen haben. Ihre Beziehung ist das Nichtmiteinanderkönnen, das voneinander doch nicht loskommt, wie es z. B. »Zeitschleifen« auf »Die Entstehung der Nacht« beschreibt: Harmonie ist dort nur noch als Harmonieren der Disharmonien möglich. Hegels Identität des Nichtidentischen in der Beziehungshölle.
Neue Platte, verschärftes Ambiente
»Die Entstehung der Nacht« schließt recht unvermittelt an »Lenin« von 2006 an, wo es v. a. um die Erosionserscheinungen des eigenen Milieus ging. Die anstehende Krise gegenkultureller Identität wurde aber schon 1996 auf »Economy Class« vernehmbar, wo sich auf »0:30, gleiches Ambiente« Kamerun über imaginierten Clublärm Smalltalk zuschreit, der popästhetische Praxis als neoliberalen Subjektbausparvertrag vorführt. Das konnte seinerzeit noch als Rollenrede zweier Werbearschlöcher im Pudelclub gelesen werden, als Subkulturhygiene, die ein wohlfeiles »die« vorführt, um sich davon abzugrenzen. Einer stellte sich aber schon als Thomas vor, Kameruns bürgerlicher Vorname. Thomas begegnen wir 2009 auf »Positionen« wieder, im Vorwurf er sei »so inkonsequent«. Der wird ihm im Rahmen eines verpeilt-aufgekratzten Protokolls über Umerfindungsstress gemacht, das durch kontextchemische Realitätsverluste stolpert, etwa im leiernden »Der Räuber und der Prinz«-Zitat. Das sich anschließende »Börsen crashen« reagiert nicht nur auf »die Finanzkrise«, sondern auch auf den freien Fall der Anlageobjekte poplinker Hoffnungen. Die Bewegungen durch subkulturelle Imaginationsräume sind entleerte Rituale geworden. Irgendwo zwischen Manie und Monotonie haben sie sich aufgehängt: »Wir verlassen die Erde« ist die abgehalfterte, lustlose Autoscooterversion einer alten Sun Ra-Utopie und »Ûber den Pass« fährt als Zitattouristin die inneren Emigrationsrouten der Hippies ab. Textlich und musikalisch registrieren die Goldenen Zitronen, inwieweit Pop mit einem Bein in der Luft hängt und mit dem anderen schon mit spätkapitalistischer Praxis verwachsen ist. Sie tun das aber ohne über Verrat oder Korruption zu richten. Die alte MC5-Forderung: Entscheide Dich, ob Du ein Teil oder die Lösung des Problems sein möchtest, gilt nicht mehr angesichts eines Problems, das sich von Lösungsversuchen ernährt, und sie weit über das hinaus verwehrt, was früher als »Kommerzialisierung« gefürchtet wurde. »Die Entstehung der Nacht« ist gewissermaßen ein Gruppenbild, auf dem alle mit allem verstrickt sind. Auf »Lenin« hieß es: »Die Nachricht mit Gasengpässen hat mich sehr erschrocken, weil die Gefahr bestand, dass auch bei uns weniger Gas ankommt«. Dabei war nicht mehr zu klären, wer da genau spricht: ein Arschloch oder Kamerun? Der Thomas oder der Schorsch?
Der »Politpunk« (um ein falsches Wort mal richtig zu verwenden) der Goldenen Zitronen handelt von der einzigen Haltung, die demgegenüber noch möglich ist: sich selbst als TeilhaberIn an gesellschaftlicher Praxis gründlich zu misstrauen. Das unterscheidet ihn von dem komischen Selbstverstrauen, dass Jochen Distelmeyer auf der parallel veröffentlichten LP verstrahlt. Der ehemalige Foucault-Rocker Distelmeyer ist in ein kompaktes Autorsubjekt zurückgeschnappt, die Zitronen hingegen komplizieren die eigene Verstricktheit. Sie kommen so einer alten poptheoretischen Forderung nach Verkomplizierung nach. Jedenfalls manchmal. Und stemmen dieses Komplizierte gegen die totalitäre Ideologie des Postideologischen, die alles schön einfach und unterkomplex halten möchte. In Anlehnung an das alte »Kunstschöne« wäre dafür vielleicht »das Kompliziertschöne« einzuführen.
Gegen die eigene Involviertheit anzusingen, ohne ihr von der Schippe springen zu können, ist nicht nur die beste Idee, die Punk je hatte, sondern sampelt auch Adornos alten Motown-Hit vom richtigen Leben und dem falschen. Bewusst zu machen, dass und warum das so ist, ist die letzte Militanzform, die die Kunst noch aufbieten kann. Gegen sich und die anderen.
Die Goldenen Zitronen: »Die Entstehung der Nacht« (Hoanzl/Indigo)