Auf den ersten Blick sind die Wiener Festwochen ein Theaterfestival. Doch bei geschärfter Sicht finden sich auch allerhand Juwelen im Musikprogramm von 12. Mai bis 21. Juni 2023. Etwa die bildgewaltige Neuinszenierung von Alban Bergs Oper »Lulu« durch die kapverdische Choreografin Marlene Monteiro Freitas mit dem RSO Wien im Museumsquartier. Oder die »Verwandlung eines Wohnzimmers«, ebenfalls zum Auftakt im Museumsquartier, worin Regisseur Toshiki Okada und Komponist Dai Fujikura mit dem Klangforum Wien die fiktive Delogierung einer Familie abhandeln. Fujikura wird am 19. Mai in der Porgy & Bess Musikschiene »Elective Affinities« auch andere Facetten seines Könnens improvisierend mit Franz Hautzinger, Eivind Aarset und Jan Bang darbieten. Die qualitativ hohe Programmdichte erläutert Wiener-Festwochen-Musikdramaturg Bernhard Staudinger im E-Mail-Interview.
skug: Wie kam es zur Genese der Weltpremiere von »Song of the Shank«? Jeffery Renard Allen adaptierte seinen Roman über Thomas Wiggins, ein blind geborenes, afroamerikanisches Komponistenwunderkind. Als Sklave erfuhr »Blind Tom« die Brutalität des US-Rassismus. Wie schonungslos wird diese nicht überwundene Gewalt gegen Andersfarbige in dieser Oper dargestellt?
Bernhard Staudinger: »Song of the Shank« basiert auf einem Buch des amerikanischen Schriftstellers Jeffery Renard Allen, der in seinem Roman die Lebensgeschichte des blinden Pianisten »Blind Tom« Wiggins erzählt. Die Idee zu dem Stück kam von George Lewis, der sich über Vermittlung des Ensemble Modern mit den Wiener Festwochen in Verbindung gesetzt hat. In den ersten Gesprächen mit George Lewis, Ensemble Modern und Wiener Festwochen entstand die Idee für Wien (Uraufführung ist am 5. Juni 2023 in Frankfurt) eine weitere Ebene (zu dem Libretto von Allen und Lewis’ Musik) hinzuzufügen. Wir konnten den bildenden Künstler Stan Douglas für das Projekt gewinnen, unser erster »Wunschkandidat«, der mit Lewis schon über viele Jahre verbunden ist. Das erste Mal haben die beiden Mitte der 1990er für einen Beitrag Douglas’ zur documenta zusammengearbeitet. Aus diesen ersten Gesprächen heraus hat George Lewis mit seiner Komposition, Jeffery Renard Allen mit dem Libretto und Stan Douglas mit seinem Konzept für Visualisierung und Bühnenbild begonnen. Für die Wiener Festwochen war es wichtig, die Dringlichkeit in der Arbeit zu spüren. Die drei Künstler sprechen mit »Song of the Shank« aktuelle, und ganz relevante Themen an, wie strukturellen Rassismus, Ausgrenzung und Benachteiligung. Das ist natürlich neben der Musik von George Lewis und Stan Douglas’ Beitrag ein wichtiges Element.
Seit wann ist das Ensemble Modern (2022 gab es ein Heiner-Goebbels-Stück) Partner der Wiener Festwochen und wie und wo liefen die Probearbeiten mit dem US-Avantgarde-Jazz-Komponisten George Lewis, den ich auch als Posaunist sehr schätze?
Das Ensemble Modern verbindet eine langjährige Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen. Die erste mir bekannte Zusammenarbeit gab es in den frühen 1990ern. In den vergangenen Jahren gab es unter anderem 2020 mit der Aufführung von Bernhard Ganders »Oozing Earth« ein Highlight mit dem Ensemble Modern, 2021 haben die Pianisten Hermann Kretzschmar und Ueli Wiget vom Ensemble Modern mit Heiner Goebbels bei seinem Stück »Liberté d’action« mitgearbeitet. Die Probearbeiten zu »Song of the Shank« haben noch nicht begonnen, das passiert vor der Uraufführung in Frankfurt und dann natürlich in Wien. George Lewis ist bei diesem Projekt übrigens ganz Komponist. Seine Arbeit als Posaunist fließt zwar mit ein, für ihn ist aber wichtig, diese unterschiedlichen Seiten seines künstlerischen Schaffens zu trennen.
Henryk Mykolaj Góreckis dritte »Symphonie der Klagelieder« ist für mich eine der eindringlichsten Kompositionen, die die Verzweiflung von gedemütigten Eingesperrten während der Besatzung Polens durch Hitler-Deutschland wiedergeben. Luigi Dallapiccola (1904–1975), der während des Ersten Weltkriegs mit seiner Familie zwei Jahre in Graz inhaftiert war, schrieb die grandiosen »Canti di Prigonia«. Diese »Gesänge aus der Gefangenschaft« sind Zeugnisse des künstlerischen Widerstands gegen Benito Mussolinis faschistisches Regime. Matija Ferlin, kroatischer Regisseur und Choreograf, wird diesen Meilenstein von Tonsatz, der sicherlich politische Komponisten wie Luigi Nono oder Luciano Berio inspiriert hat, in dreierlei Ebenen zusammenführen. Bitte um eine kurze Einführung, wie diese ineinandergreifen werden.
Matija Ferlins »Canti di Prigionia« ist eine unserer Uraufführungen im diesjährigen Programm und insofern ist das Stück gerade in intensiven Proben und noch im Entstehungsprozess. In einem letzten Gespräch mit Matija Ferlin war für ihn allerdings ganz klar, dass er der Musik Dallipicolas einen zentralen Raum geben will. Ferlins Idee ist, sich dem Material über die angesprochenen Ebenen aus der musikalischen Interpretation des Ensembles PHACE, der Sänger*innen von Cantando Admont und seiner Schauspieler*innen anzunähern. Ferlin wird dabei auch selbst auf der Bühne agieren, und quasi seinen Reflexionsprozess zur Musik und Biografie Dallapiccolas offenlegen. Wir können ihn dabei beobachten, wie er mit Schauspieler*innen und Musiker*innen in Aktion treten wird, »Anweisungen« gibt und auch szenisch in das Geschehen eingreift. Was vielleicht spontan improvisiert wirkt, ist selbstverständlich durchdacht und geprobt. Auch die Musiker*innen sollen so z. B. ein Skript erhalten, in dem Bewegungsabläufe auf der Bühne festgehalten werden. Interessant wird dabei auch sein, wie Ferlin die Lebensgeschichte des Komponisten über seine eigene Biografie darlegt. Wie Dallapicolla stammt auch Ferlin aus Istrien. Ferlin hat uns erzählt, dass es dort quasi in jedem kleinen Dorf zumindest eine nach dem Komponisten benannten Straße gibt und dessen Name irgendwie »allgegenwärtig«, aber trotzdem unbekannt ist.
Die Wiener Festwochen sind auch mit der Präsentation eines Pop-Giganten auf der Höhe der Zeit. Devonté Hynes, übrigens Sohn von Flüchtlingen aus Sierra Leone, ist skug-Leser*innen als Blood Orange wohlvertraut, doch wird er am 29. Mai im Wiener Burgtheater »Selected Classical Works« aufführen. Der Londoner Komponist führt in seiner Radio-Podcast-Serie »BBC Composed« ein Dutzend Stunden lang durch die Musikhistorie, von Dmitry Shostakovich über Michael Nyman bis Julius Eastman, von Lili Boulanger über Arthur Russell bis Angel Bat Dawid, um mal nur aus der Tracklist Numero 4 zu zitieren. Welches ist dein Highlight aus dem Event mit Hynes, der mit welchem Orchester in welcher Funktion auftreten wird?
Ein einzelnes Highlight aus dem Abend herauszupicken, fällt mir ehrlich gesagt schwer. Für mich ist das Projekt insgesamt wichtig, vor allem im Rahmen eines Festivals wie Wiener Festwochen. Devonté Hynes hat seine »Selected Classical Works« zuletzt im Barbican in London präsentiert, in Wien wird es ein leicht verändertes Programm geben. Begleitet wird Hynes von den beiden Solomusiker*innen Adam Tendler (Piano) und Marie Spaemann (Cello) sowie dem Big Island Orchestra unter der Leitung von Martin Gellner. Ich persönlich freue mich auf das Konzert, weil es eine andere Perspektive auf das musikalische Schaffen von Devonté Hynes bietet, den ich als Producer schon seit seinen Arbeiten für FKA Twigs, Solange, Sky Ferreira, Kindness und natürlich Blood Orange verfolgt und toll gefunden habe. Ich glaube auch, dass es sehr wichtig ist, diese vermeintlich weit voneinander entfernten Welten von klassischer Musik, Neuer Musik und Pop ein Stück weit näher rücken zu lassen. Für Devonté Hynes ist es sehr wichtig, in diesem Kontext als Komponist wahrgenommen zu werden. Als Künstler, der sich nicht »nur« im Bereich des Pop bewegt, sondern auch mit Ensembles und Orchestern arbeitet. Hörbare Einflüsse sind etwa der schon erwähnte Julius Eastman und Philip Glass, mit dem Devonté Hynes auch Projekte realisiert. Wie Philip Glass, Alfred Schnittke oder Ryuichi Sakamoto komponiert Devonté Hynes immer wieder auch für Filme oder Serien. Das ist natürlich wieder ein ganz eigener Kontext, in dem diese Stücke entstehen, aber ich denke, dass auch hier so eine Art (positiver) Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Publikumsgruppen entstehen kann.
»Elective Affinities« bietet im Porgy & Bess an sechs Abenden Furiosi in Sachen Sound Art, Noise und auch Jazz. Maurice Louca oder Kuljit Bhamra und Beatrice Dillon sind eher nur »Zeit-Ton«-Hörer*innen ein Begriff. Spannende Reihe, welche auch die Österreicher*innen Agnes Hvizdalek, Jakob Schneidewind und Franz Hautzinger einbindet. Welche Intention steckt hinter diesen Wahlverwandtschaften? Geht es darum, Künstler*innen, die an einer Festwochen-Aufführung beteiligt sind, in einem anderen Kontext zu präsentieren, oder eher darum, die Vielfältigkeit musikalischen Schaffens der aus welchem Grund Auserwählten zu betonen?
Die Idee hinter »Elective Affinities« war eine Konzertreihe als Erweiterung des musikalischen Programms der diesjährigen Festwochen. Es soll also einerseits darum gehen, neben großen Produktionen wie »Lulu«, »Verwandlung eines Wohnzimmers« oder »Song of the Shank« eine weitere musikalische Facette anzubieten. An sechs Abenden wird es im Porgy & Bess einen ziemlichen Querschnitt durch ein aktuelles Musikangebot geben. Uns war dabei wichtig, vielen unterschiedlichen musikalischen Richtungen, möglichst auch aus ganz unterschiedlichen Kulturen und musikalischen »Sprachen«, einen Raum zu geben. Und so wird es von Jazz, Spoken Word Poetry, elektroakustischer Improvisation, Clubsounds, Tabla Percussion bis zu einer sehr idiosynkratisch gedachten Version von R&B auch ein sehr breit aufgestelltes Programm geben. Trotz aller Unterschiede glauben wir aber auch, dass die »Elective Affinities«-Reihe keine beliebige Zusammenstellung von unterschiedlichen Konzerten ist, sondern durch ein verbindendes Element zusammengehalten wird. Dieses Element könnte man z. B. mit einem gewissen »forschenden Spirit«, einer Offenheit und Neugier beschreiben. Zu dieser Offenheit und Neugier wollen wir unser Publikum auch sehr gerne einladen, mit den »Elective Affinities« über den Zeitraum der Wiener Festwochen auf eine kleine musikalische Reise zu gehen.
Acht Mal wird es die »Club Liaisons« anlässlich der Einzelausstellung der Künstlerin Liesl Raff im Kunstraum Franz Josefs Kai 3 geben. Zu erwarten sind Tanz, Performance oder auch eine One-Woman-Punk-Band. Bitte um eine persönliche Empfehlung aus diesem Angebot von »Verruchtem und Subversivem, Melancholischem und Absurdem«.
Diese Reihe wurde von meiner Kollegin Carolina Nöbauer kuratiert. Ich freue mich da persönlich z. B. auf den Abend mit Stina Force!
Schlussendlich weiß skug zu wenig über die Party-Schiene im Club U. Bitte um mehr Infos dazu, samt Artists bzw. DJs und Beginn/Ende.
Die Abende im Club U wurden gemeinsam mit Veranstalter*innen in Wien kuratiert. Wir wollten da natürlich auch mit (und nicht »gegen«) den Club U arbeiten, deswegen war uns auch wichtig, Rhinoplasty »offiziell« in unser Programm mitaufzunehmen. Ich freue mich auch sehr über die gute Zusammenarbeit mit Res.Radio, Sonic Territories und A Party Called Jack, die für die Abende ein tolles Programm zusammengestellt haben. Hier die Übersicht zu den Partys im Club U:
20. Mai: hosted by Rhinoplasty. Mit Anita ASFiNAG, Philipp Eicher, Glossy QT + EcleKtric
27. Mai: hosted by Res.Radio. Mit braun.aar (live), yynona, Quilombo, MKCMLLN, Ehrenschwesta, Boys Who Cry
3. Juni: hosted by Sonic Territories. Mit Carpet Concert: Seba Kayan, Karrar Alsaadi und Boualem Dahmani (live), Exit Kurt, Seba Kayan, Ford Escort, zey, MARAws
10. Juni: hosted by A party called Jack. Mit Alex Valdés (live), Aminata Seydi (live), Altroy Jerome, KOR1N, Ingrid, Reeno Reluv, Rumi von Baires, ++Sucre Sucre
17. Juni: hosted by Rhinoplasty. Mit Anita ASFiNAG, peter puenktlich + esti.d, Philipp Eicher