© Millennium Docs Against Gravity Film Festival
© Millennium Docs Against Gravity Film Festival

»The World Is Waking Up«

Das Millennium Docs Against Gravity Film Festival in Warschau ist in seiner 18. Ausgabe von 2. bis 12. September 2021 über die Bühne gegangen. Warum es auch für Österreich relevant ist und welche Filme unbedingt nachgesehen werden müssen, gibt es hier als Auslands-Festivalreport nachzulesen.

Zwischen schon wohletablierten polnischen Filmfestivals, wie etwa dem Krakowski Festiwal Filmowy in Krakau, dem Festiwal Polskich Filmów Fabularnych in Gdynia oder dem im Oktober ebenfalls in Warschau über die Bühne gehenden Warszawski Międzynarodowy Festiwal Filmowy füllt das in diesem Jahr in seiner 18. Ausgabe stattfindende Millenium Docs Against Gravit Film Festival eine Lücke, die es wert ist, sich genauer anzusehen. Und das nicht nur, weil der kinematographische Blick und die damit einhergehende Festival-Kuratierung ganz einfach kulturell bedingt anders sind und einem so neue und andere Perspektiven eröffnen.

Vielmehr ist das auf Dokumentarfilme spezialisierte Festival auch dahingehend länderübergreifend interessant, dass das diesjährige Motto »The World Is Waking Up« globale Fragestellungen aufgreift und auch ganz konkret auf die Veränderungen im letzten Jahr reagiert. Und nicht nur programmmäßig bietet das Festival eine Antwort auf die Pandemie, sondern auch in seinem Format: Während die »Präsenz«-Ausgabe vom 2. bis 12. September stattgefunden hat, was für österreichische Zuschauer*innen durch die räumliche Distanz in Warschau so und so schwierig(er) zu bewerkstelligen gewesen wäre, geht das Festival ab 16. September bis inklusive 3. Oktober 2012 in eine Online-Variante über. Einige der im Weiteren besprochenen Filme sind überdies so relevant, dass sie wohl kaum nicht ihren Weg in die österreichischen Kinos schaffen werden.

»I want you to panic«
Diese Worte von Greta Thunberg, die sie bei einer ihrer vielen Reden im Europäischen Parlament von sich gab und welche schlussendlich die ganze Welt hörte, sind inzwischen nicht nur ein zeitgeschichtliches Relikt, welches in seiner Manifestation der unzähligen Klimaproteste eine Welle an tatkräftiger Reaktion auslöste. Sie sind auch Teil eines Ausschnitts, der im über Thunberg gedrehten Film »I Am Greta« zu sehen sein wird. Der von Nathan Grossman produzierte Film, der auch der Eröffnungsfilm des Festivals war, begleitet dabei die damals gerade mal 15-jährige Greta durch ihre Entwicklung zu einer der wichtigsten »Galionsfiguren« der Klimabewegung, als die sie heute immer noch aktiv ist. Dabei würde Thunberg selbst sich dem Titel einer »Anführerin« verwehren, welchen sie niemals als das Ziel ihrer Ambitionen angesehen hat.

Es bleibt etwas ironisch, dass der Film mit dem doch sehr personenzentrierten Titel »I Am Greta« irgendwo dann doch konterkarierend wirkt zu dem, was Greta als die Kraft im Kollektiv und nicht in der polarisierenden Einzelperson betrachtet. Aber vielleicht spiegelt er auch genau deswegen so gut die Ambivalenz wider, die über die Figur der Greta Thunberg weltweit medial ausgebrochen ist. Schlussendlich kann man sagen, was man will, im Vordergrund sollte stehen, welche unglaublichen Auswirkungen die »kleine« Präsenz der inzwischen 18-jährigen Thunberg bis heute hat. Der Film, der Greta von ihren absoluten Anfängen bis in die Jetztzeit begleitet, sollte deshalb allein aufgrund der mimetischen Wirkung unbedingt angesehen werden und gab gleichfalls einen hervorragenden Tenor für das gesamte Festival. Der Streifen wird überdies ab Oktober auch in den österreichischen Kinos zu sehen sein.

Zwischen Bashir und Linklater
Ein weiterer Film, den es absolut hervorzuheben gilt, ist Jonas Poher Rasmussens »Flee«, der auch den Grand Prix des Festivals gewonnen hat. Der Streifen, der, wie Regisseur Rasmussen selbst im Interview sagte, durchaus von Ari Follmans Film »Waltz with Bashir« (2008) inspiriert wurde, ästhetisch und rhythmisch aber auch sehr an Richard-Linklater-Produktionen wie »Waking Life« (2001) erinnert, lässt einen doch am Ende nur sprachlos zurück. Es ist nicht nur die wunderschöne Verwendung von Animationselementen, die der so schwierigen Geschichte ein ganz besonderes Erzählformat geben, vielmehr ist es die immanente Relevanz, die dieser Film im Jahr 2021 für Hunderttausende von Menschen spielt.

»Flee« erzählt die Geschichte des inzwischen 36-jährigen Amin, der in den 1990er-Jahren gemeinsam mit seiner Familie aus Afghanistan über Russland und schließlich nach Dänemark flüchtete, wo er aber nur unter der falschen Behauptung des Todes seiner gesamten Familie ein Anrecht auf Asyl als unbegleiteter Minderjähriger erhielt: eine Geschichte, die bis zu Rasmussens Initiation zum Film (der ursprünglich eine Hörspieldokumentation werden sollte) aufgrund der so traumatisierenden Erinnerungen und der ihn ständig begleitenden Angst, doch wieder zurückgeschickt zu werden, ein gut behütetes Geheimnis war. Es entspricht unfreiwilliger Ironie, dass der Film gerade jetzt – pandemiebedingt verspätet – zu der Aufmerksamkeit gelangt, die er verdient.

Dabei schafft es der knapp 90 Minuten dauernde Streifen nicht nur, die kollektive Erfahrung von »Flucht« aufzugreifen, sondern gibt dabei auch ein Porträt eines jungen Mannes, der – bewegt von einem ständigen Getrieben-Sein – nach langer Zeit wieder eine Möglichkeit sucht, sich niederlassen zu können. Der Film hat zu Recht schon mehrere Preise erhalten (etwa die Auszeichnung als bester internationaler Dokumentarfilm am 37. Sundance Film Festival) und wird hoffentlich auch seinen Weg in die österreichischen Kinos machen, stellt er doch ein höchst brisantes und selten mehr relevantes Zeitdokument dar.

Polen im Selbstporträt
Um den Länderkontext des Festivals zu unterstreichen, soll nun noch eine polnische Produktion hervorgehoben werden, die ein durchwegs amüsantes und gleichermaßen ernsthaftes »Porträt« der polnischen Gesellschaft im Jahr der Pandemie zeigt. Der Film »Polaków Portret Własny« (engl. »Polish Self-Portrait«) vom Regie-Trio Maciej Białoruski, Jakub Drobczyński und Jakub Rados ist plump gesagt eine dramaturgisch durchdachte Aneinanderreihung von »Home-Video-Footage« der Protagonist*innen, welches eine Hand voll Menschen durch das vergangene Jahr begleitet.

Untermalt und unterbrochen wird der Film dabei von beeindruckenden Demonstrationsbildern oder Drohnenaufnahmen, die die Leere genauso wie den Frust, der immer wieder in den Stimmen der Menschen durchklingt, auf besondere Weise unterstreichen. Ein Jahr der Pandemie, das in Polen nicht nur wie überall anders auch zu einer ambivalenten Fragmentation der Gesellschaft führte, was die Covid-Maßnahmen betrifft, sondern in dem auch eine Präsidentschaftswahl ausgefochten wurde, die alles andere als eindeutig war, und das verschiedene rechtliche Verschärfungen und politischen »Husch-Husch«-Interventionen (etwa dem neuen Abtreibungsrecht) mit sich brachte, die hunderttausende Menschen auf die Straßen trieben.

Dabei kamen die polarisierten und »aufgehetzten« Lager der polnischen Gesellschaft zum Vorschein. Unzählige Massendemonstrationen liefern Bilder, die von einer starken zivilen Kraft zeugen und zusammen mit den Handy-Aufnahmen der Protagonist*innen, die – permanent zur Selbstreflexion gezwungen – in ihren Wohnungen eingesperrt sind, wirklich starke Kontraste erzeugen. Ein Gefühl zwischen Stagnation und Ekstase. Und ein Film, der unerwartet und im kompletten Ausnahmezustand einen ganz wichtigen gesellschaftlichen Nerv trifft.

Honorable Mentions
Abseits davon gab es in den vielen Subkategorien des Festivals Streifen, die sich als unerwartete »Gems« herausstellten. So sei etwa der über Frank Zappa gedrehte Film »Zappa« von Alex Winter erwähnt, der in sehr detaillierter Manier und unter Verwendung von Archivmaterial den Ausnahmemusiker von seinen frühesten Anfängen bis zu seinem Tod begleitet. Eine Geschichte, die vor allem auch davon zeugt, in welch ambivalenter Weise Zappa nicht nur als Musiker, sondern auch als politischer Denker wahrgenommen wurde.

Ein weiterer großartiger Film ist die Dokumentation »Jacinta« von Jessica Earnshaw, die ihre junge US-amerikanische Protagonistin porträtiert, die zu Beginn des Filmes in einer Strafanstalt für Frauen untergebracht ist. Im Laufe der Handlung entwirrt Earnshaw die komplexe und teils wirklich zermürbende Geschichte ihrer Familie, die von immer wiederkehrenden Suchtrückfällen und Gefängnisaufenthalten zeugt. Und so entmutigend, wie die Geschichten in dem Film erscheinen, so reflektiert und optimistisch sind doch ihre Protagonistinnen, so dass man während des gesamten Films zwischen Lachen und Weinen hin und her gerüttelt wird.

Ein letzter Film, gefunden in der Kategorie »Places«, soll hier erwähnt werden: Andrea Segres wollte mit »Molecules« in Gedenken an seinen Vater einen Film zu dessen Heimatstadt Venedig drehen. Ein Plan, der Pandemie-bedingt durchkreuzt wurde und den Regisseur schlussendlich eine etwas andere Richtung einschlagen ließ. Statt einen Film über venezianischen Tourismus zu machen, ist der nun entstandene Streifen eine liebevolle Elegie an seinen Vater, der untermalt wird von einem leeren Venedig, wie man es wohl nicht nochmal zu sehen bekommen wird. Eine Kombination, die nicht nur von der Spontaneität des Regisseurs lebt, sondern auch selten schwer berührt.

Schlussendlich ist zu sagen, dass das Millennium Docs Against Gravity Film Festival im nächsten Jahr aufgrund seiner hervorragenden Kuration und Rahmenprogrammgestaltung einen Besuch der polnischen Hauptstadt wert ist. Und falls es doch lieber eine andere Stadt sein soll, gibt es auch Satelliten-Ableger in Wrocław, Gdynia, Katowice, Poznań, Bydgoszcz und Lublin.

Link: https://mdag.pl/

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