»Ich habe es mir etwas erregender vorgestellt, aber letztendlich hatten wir ganz normal Sex«, lacht Marina Belobrovaja in ihr Telefon, an dessen anderem Ende ihre Mutter lauscht. Mit einem Kissen unter dem Hintern liegt sie in einem Hotelzimmer irgendwo in der Schweiz. Der Mann, mit dem sie gerade Sex hatte, hat das Hotel bereits verlassen. Bald wird er der genetische Vater ihrer Tochter sein. Später wird die Züricher Filmmacherin den anonymen Samenspender gegenüber Tochter Nelly den »Mann, der uns geholfen hat« nennen. Kurz war die Begegnung zwischen den beiden, einen Vertrag gibt es nicht, denn was Belobrovaja und der Unbekannte getan haben, ist in der Schweiz eigentlich illegal. Der Mann willigte zur Zeugung ein und auch dazu, in dem Film zu erscheinen.
Abseits der normativen Kleinfamilie
Marina Belobrovaja kommt in Kyjiw zur Welt. Aufgrund der Atomkatastrophe in Tschernobyl wandert ihre Familie nach Israel aus. Ihr Studium der Bildenden Künste bringt Belobrovaja nach Berlin und Zürich, danach arbeitet sie als Künstlerin, Dozentin und Regisseurin. Neben ihrer Karriere hegt sie einen starken Kinderwunsch. Mit 36 Jahren – und ohne Partner – hört sie laut ihre biologische Uhr ticken. 2013 fällt sie dann die Entscheidung: Sie wird ein Kind bekommen. Im Alleingang. Den Weg dorthin sowie ihre Auseinandersetzung mit Normen und Wertvorstellungen um Familie dokumentiert sie in ihrer beeindruckenden Autobiografie »Menschenskind!« (2021). Über mehrere Jahre hinweg filmt sie den Alltag und das Zusammenleben mit ihrer Tochter Nelly, zeichnet die Interaktionen mit ihren eigenen Eltern und der (Ur-)Großmutter auf, die weit weg von der Schweiz in Israel leben, und spricht mit Personen und Paaren, die ebenfalls Lebensmodelle abseits der normativen Kleinfamilie in Erwägung ziehen.
Ihr Dokumentarfilm ist dabei auch ein Versuch der Autorin, ihre Angst zu überwinden. Das Projekt habe ihr erlaubt, ihren Weg zur Mutterschaft nicht nur als eine persönliche Situation zu begreifen. Denn die Fragen, die der Film aufwirft, sind auch gesellschaftlich relevant: Wie reagiert Belobrovajas Umfeld auf ihren Weg zur Mutterschaft? Ist es in Ordnung, ein Kind zu zeugen, das seinen genetischen Vater möglicherweise nie kennenlernen wird? Das einen Vater haben wird, der keine soziale Verantwortung übernimmt? Wie wird die Regisseurin ihrem Kind erklären, dass es ohne Vater aufwächst? Und die vielleicht moralisch komplexeste Frage: Gibt es ein »Recht auf Elternschaft«?
Frei von Hierarchisierungen
Der Film kann nicht alle dieser Fragen beantworten. Vielmehr zeigt er die Komplexität und Verwobenheit der Thematik, bringt unterschiedliche Meinungen zum Vorschein und regt vor allem zum Nachdenken an. So interviewt Belobrovaja etwa Anna und Sven, zwei mittlerweile Erwachsene, die durch Samenspende entstanden sind und die die Art und Weise ihrer Erzeugung durchaus kritisch sehen. Beide haben dennoch, auf ganz unterschiedliche Weise, einen Umgang damit gefunden. Belobrovaja trifft auch ihre Freundin Sandra und deren Lebenspartner Anton, die bezüglich Kinderplanung nicht auf einen Nenner kommen und sich schließlich für einen ebenfalls ungewöhnlichen Weg der Familienplanung entscheiden. Und sie berichtet von den bürokratischen Hürden, denen sie als alleinerziehende Mutter immer wieder gegenübersteht.
Belobrovaja erzählt in »Menschenskind!« einfühlsam, ausgeglichen, intim und reflektiert von alternativen Modellen der Familienplanung und des Eltern-Werdens. Dabei lässt sie verschiedene Meinungen zu Wort kommen, ohne Hierarchisierungen vorzunehmen. In einer der absurdesten wie zugleich lustigsten Szenen des Dokumentarfilms erzählt die Regisseurin einem lesbischen Paar von den über 60 Halbgeschwistern ihrer Tochter Nelly. Die fassungslose Reaktion: »Das sind ja Kinder von der Stange!« Tochter Nelly findet diese Zahl ganz und gar nicht schockierend, wie die Filmemacherin später in Interviews erzählt: Im Schulunterricht prahlt das Mädchen mit seiner »Großfamilie«.
»Menschenskind!« ist ein Film für alle, die sich für die Dekonstruktion bestehender Familien- und Geschlechternormen interessieren – und für eine Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen der Moral gewappnet sind.