© Roland Pohl
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Künstler müssen nicht diplomatisch sein – Teil 1

Ein ausführliches Gespräch mit Konstantin Wecker über Kunst und Politik in drei Teilen. Eine gekürzte Version erschien bereits auf Telepolis und flutet dort die Kommentarspalten mit einem AfD-Shitstorm. Gerne bietet skug jetzt das gesamte Material, den einen zum Zorn, den anderen zur Freud.

Der erste Teil unseres Interviews behandelt die Möglichkeiten poetischen Widerstands oder gar einer spirituellen Revolution, erklärt, warum auch ein »tänzelnder Nationalismus« abzulehnen ist, und überlegt, wie es mit dem Privateigentum im Internetzeitalter weitergeht. Hier geht’s zu Teil 2 und Teil 3.

skug: Herr Wecker, ich habe ja das Gefühl, dass unser Gespräch heute sehr politisch wird.
Konstantin Wecker (lacht): Ja, das könnte angesichts der Weltlage so sein.

Deswegen sollten wir bewusst mit einer ästhetischen Frage beginnen: Warum ist schöne Musik immer ein wenig traurig?
Ehrlich gesagt, ich habe das nie so gesehen. Ich bin großgeworden mit Verdi, Puccini, Mozart und Schubert, durch meinen Vater, der Opernsänger war, und durch die Schellackplatten, die wir zu Hause hatten. Vielleicht kommt es daher, dass Leute, die mit klassischer Musik nicht so viel anfangen können, jede Musik, die nicht tanzbar ist, als etwas traurig empfinden. So wie manche sagen, gute Literatur sei traurig, weil es anstrengender ist, sich in sie hineinzuversetzen. Musik und Poesie – und ich nehme hier Poesie als Überbegriff, der für bildende Kunst genauso gilt wie für Musik und Literatur – lockt etwas im Herzen. Das Namenlose, das Unbenennbare. In meinem Lied »Auf der Suche nach dem Wunderbaren« habe ich es das Wunderbare genannt. Das ist etwas, das einen, wenn man es nicht zulassen will, auch traurig machen kann. Oder sogar ärgerlich. Deswegen meine ich: Poesie ist Widerstand. Weil Poesie den Herrschenden widersteht, die ihre Empathie – wie sich heute so schrecklich zeigt – gerade einmal zulassen, wenn es um thailändische Jungen geht, was natürlich gut nachvollziehbar ist. Aber sie können sofort abschalten, wenn es um Flüchtlinge auf hoher See geht. Das ist pervers, oder?

Ja, das ist es.
Mitgefühl wird aufgeteilt in bessere, richtigere Menschen und solche, die uns schaden. Mitgefühl gilt plötzlich nicht für alle Menschen und nicht für alle Wesen. Zurückkommend auf die Poesie zeigt sich folgendes: Du kannst mit einem Machthaber wunderbar über Krieg reden, über Kriegslogistik, über Militarisierung, über Finanzierung und dergleichen, aber Poesie macht ihm Angst. Weil da etwas aufbrechen könnte, was er verschließen muss, um sein Machtspiel weiter zu treiben.

Robert Musil hat einmal gesagt: Wenn man ein Gedicht vorliest in einer Vorstandsetage eines großen Konzerns, dann ist das Gedicht sinnlos, aber der Konzernvorstand wird es auch.
(lacht) Das hat Musil gesagt? Großartig. Das gefällt mir gut. Das ist eine schöne Antwort auf diesen Standardspruch: Sing doch mal deine Lieder beim AfD-Parteitag! Klar, es ist sinnlos, und mein Lied ist dort sinnlos, aber der AfD-Parteitag wird es auch. Hannes Wader hat ja das gleiche Problem. Die Leute sagen zu ihm: Seit vierzig Jahren singst du für eine gerechtere Welt und jetzt schau dir die Welt an! War es nicht sinnlos, was du gemacht hast? Und Wader hat gesagt: Die Frage ist nicht richtig gestellt. Man müsste fragen, wie sähe die Welt aus, ohne diese kleinen Mosaiksteinchen? Mosaiksteinchen, die wir sind, die engagierte Menschen sind. Ja und ich möchte weitergehen und sagen, wie viel schrecklicher sähe die Welt aus ohne die Kunst überhaupt, ohne die Poesie? Deswegen zeigt sich auch, dass in allen angehenden Diktaturen sofort die Kultur beschnitten wird, die Poeten des Landes verwiesen und die Bücher verbrannt werden. Die AfD greift aktuell das Regietheater an, das schafft sie aktuell noch nicht und hoffentlich nie. Die AfD will den Schiller so sehen, dass tausend Jahre glorreiche deutsche Geschichte dadurch zum Tragen kommt. (lacht) Was immer die mit Schiller wollen, die haben einfach keine Ahnung. Sie haben keine Ahnung und deshalb haben sie Angst vor der Kunst.

Kommen wir nun doch noch einmal kurz zurück zur traurigen Wirkung der Kunst. Schubert war es ja, der gesagt hat, dass ihn alle Musik ein wenig traurig mache, und eine interessante Vermutung liegt darin, anzunehmen, er habe dies deswegen gemeint, weil er die Revolution hat scheitern sehen. Aber es könnte neben diesem politischen noch einen anderen Grund geben. Sie haben vor Kurzem gemeint, es sei so merkwürdig, dass man die schönen Augenblicke des Lebens kaum erinnert, aber die tragischen, die traurigen Momente, …
… die peinlichen vor allem, …

… einem so genau in Erinnerung bleiben. Als ob die Melancholie dadurch entstünde, dass etwas innerlich, geistig genau ausgearbeitet wird, sei es jetzt durch die Erinnerung oder die Kunst.
Das ist natürlich völlig richtig. Ich habe da an mir etwas beobachtet. Mahler macht mich beispielsweise, wenn ich schlecht drauf bin, fertig. Der reißt mich rein. Eigentlich ist es nur bei Mozart so, dass der mich heiter macht, wenn ich traurig bin, und wenn ich heiter bin, dann macht er mich noch heiterer. Aber keine Frage, die Melancholie gehört immer dazu. Eugen Drewermann hat gesagt, die Schwermut sei die Schwester deines Glücks. Das erscheint mir deswegen interessant, weil ich das an mir erst seit Kurzem akzeptiere. Ich habe vor 14 Jahren ein Lied über die Schwermut geschrieben. Meine Texte passieren mir ja und ich denke sie mir nicht aus. Und nach diesem Lied wusste ich plötzlich, dass ich immer schon ein schwermütiger Mensch war und mir gerne von außen einreden ließ, ich hätte die Power und sei immer gut drauf. Ohne Schwermut kann man nicht mitfühlend sein. Erst die Schwermut gibt uns die Möglichkeit, tief ins uns hineinzugehen, und wir beginnen dort etwas zu verarbeiten. Die Schwermut ist eine Bedingung der Kunst. Das Glück ist ohne Schwermut gar nicht als solches zu erfassen. Das Erinnern an die schönen Augenblicke wird mir heute im Alter erst viel klarer. Die wirklich schönen Augenblicke sind nicht die, wo man mal kurz gut drauf ist, sondern sind jene der Ich-Losigkeit, wo man einfach nur da ist und aufgehoben ist in allem. An diese mystischen Erfahrungen kann man sich natürlich nachher nicht erinnern, weil man ja in diesen Erfahrungen mitten drinnen war und ohne Ratio. Ich kann mich nur erinnern, dass da mal was war. Es kann nicht nachempfunden werden und mit dem Verstand zurückgeholt werden. Um es erneut zu empfinden, muss es wieder erlebt werden. Das ist gerade das Schöne an diesen Momenten. Sie können auch nicht erarbeitet werden, auch vierzig Jahre Meditation bieten keine Gewähr, dass man in diesen Zustand kommt.

Die kürzlich verstorbene Christine Nöstlinger war ja nicht nur Kinderbuchautorin, sondern auch politische Kommentatorin. Zum letzten Wahlergebnis in Österreich hat sie gesagt, sie betrachte die fünfzig Jahre Aufklärungsarbeit, die sie geleistet hat, als für die Fische. Aufklären könne man letztlich nur die eigenen Leute. Die meisten aber wollen sich fürchten und sind nicht bereit, nachdenken.
Wenn das ausgenützt wird, dann ja. Weil die Menschen leider sehr manipulierbar sind. Man kann dies aber auch in eine andere Richtung lenken. Ich möchte an dieses politische Lehrstück erinnern, das sich mit der »Willkommenskultur« gezeigt hat. Das war eine wirkliche Bürgerbewegung. Und es hat knapp drei Monate gedauert, bis diese Menschen ausgelacht und als »Gutmenschen und Teddybärwerfer« verspottet wurden. Man muss sich dies nur einmal verbildlichen, wenn diese Geschichte in Thailand gewissen Kreisen nicht passen würde, wäre es möglich, in kurzer Zeit zu sagen: Die waren selber schuld, ihr Lehrer war schuld und wer schuld ist, soll sterben. Was auch immer man sich da für einen Blödsinn einfallen lässt. Auch das wäre manipulierbar. Keine Frage. Es wurde manipuliert, weil gewissenlose Potentaten die Chance sahen, dies auszunutzen. Die AfD hat 99 % ihrer Anträge im Bundestag nur zum Thema Flüchtlinge gestellt. Sie haben ja kein anderes Thema. Sie wissen genau, dieses Thema zieht, und das weiß auch der Herr Seehofer. Dabei gibt es viel weniger Flüchtlinge als noch vor zwei Jahren. Das ist infam, was da passiert. Es gibt einen erschütternden Brief von Seenotrettern, den sie an Horst Seehofer geschrieben haben und in dem sie gefragt haben »Wir retten Menschen, aber was tun Sie?« Seehofer will die Retter ja sogar unter Strafe stellen. Das wäre so, als würde man die thailändischen Rettungstaucher bestrafen.

Und Mitgefühl ist ja ganz offensichtlich in großem Umfang vorhanden.
Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob die Aufklärungsarbeit dahin ist. Denn gleichzeitig merke ich, wie im Verborgenen und viel weniger lautstark bei vielen Menschen sich eine Art spirituelle Revolution vollzieht. Ein Wandel, der per se nicht plakativ sein kann. Ich schreibe ja gerade einen »anarchischen Psalm« mit meinem neuen Buch »Poesie und Widerstand«. Ein Weckruf für eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Es ist ein Prosagedicht. Man kann es Slam Poetry nennen, aber ich bin zu alt, um es so zu nennen. (lacht) Ich merke an meinem 18-jährigen Sohn – der ist ja aktiv in der Antifa und ich kenne seine Freundinnen und Freunde – die Jungen lassen viel mehr als wir damals diesen anarchischen Gedanken wieder zu. Unser Problem war seinerzeit diese Ideologisierung, daran ist meines Erachtens die 68er-Revolution gescheitert. Es waren zu viele Menschen da, die plötzlich genau wussten, mit welchen starren ideologischen Mitteln sie die Welt retten können. Ich war damals umgeben von Gegnern aus der KPD/ML, Marxisten-Leninisten, Trotzkisten – die waren mir noch am sympathischsten – und natürlich Maoisten. Und jeder hat gegen den anderen gekämpft, anstatt zu sagen, wir haben eine ähnliche Vorstellung. Uralte Stalinisten gab es dann auch noch und wir Anarchos waren ziemlich allein. Heute, glaube ich, ist da eine Öffnung da und mein jahrzehntelanger Versuch, Politik und Spiritualität zusammenzubringen, scheint langsam ein wenig auf fruchtbaren Boden zu fallen.

Bemerken Sie diese Veränderung auch innerhalb ihrer publizistischen Tätigkeit?
Als wir vor fünfzehn Jahren mit dem Internetmagazin »Hinter den Schlagzeilen« anfingen, hat es vielen Marxisten die Fußnägel aufgedreht, wenn ich das Wort Spiritualität nur erwähnt habe. Viele Spirituelle glaubten hingegen immer, Politik habe mit ihnen nichts zu tun, alles passiere nur im Inneren. Da hat sich vieles geändert. Menschen, die sowohl spirituell als auch in gewisser Weise politisch sind, wie etwa der amerikanische Zen-Buddhist Bernie Glassman oder Anselm Grün, finden Gehör. Es gibt ja übrigens auch beispielsweise eine klösterliche Tradition, Flüchtlinge aufzunehmen. Spirituelle Menschen gehen mittlerweile vor gegen jede Form von Amtskirche und religiöse Dogmatik. Politisch engagierte Menschen haben nicht mehr diese ideologische Starrheit. Die führt immer in den Untergang, weil sie die Selbstreflexion unterbindet. Eine wesentliche, wenn nicht die wesentlichste Aufgabe des Menschen besteht darin, sich selbst auf die Schliche zu kommen. Manche schaffen das bereits mit 20, aber ich habe dafür länger gebraucht. Ich habe verschiedene Ichs in meinem Leben gehabt und manchmal von einem Tag auf den anderen gedacht, wer war ich da eigentlich gestern? Welches Ich war das und was ist das Wesentliche an mir? Diese Suche nach Identität muss in einem selbst passieren, sonst sucht man sie bei den Identitären, im Völkischen und Nationalen. Und das zu erkennen, dazu kann einem die Kunst verhelfen.

Man kann trotz all der besorgniserregenden Entwicklungen den Eindruck haben, die Menschen werden in vielen Beziehungen zivilisierter. Tatsächlich nimmt beispielsweise die Gewalt gesamtgesellschaftlich ab. Kirmesfeste waren ja zum Beispiel früher eine einzige Schlägerei.
(lacht) Ja genau, ich erinnere mich.

Haben Sie damals mitgeschlägert?
Nein, ich war kein Schläger. (lacht) Zu feig und als Pianist viel zu besorgt um die eigenen Hände.

Das ist eine erfreuliche Entwicklung, die Menschen werden zivilisierter und es mag – so wie im Hannes-Wader-Zitat zuvor angedeutet wurde – auch etwas mit der Kunst zu tun haben. Nur kann die Kunst in der Krise keine Haltung verordnen, sondern diese müssen die Einzelnen selbst beweisen.
Man kann mit der Kunst inspirieren und Mut machen, dass diejenigen, die das hören oder lesen, zu sich selbst stehen. Die Leute sollen ja nicht zu mir stehen, wenn sie meine Musik hören. Das ist nicht so wichtig. Es ist schön, aber es geht um etwas anderes. Seit meinem 14. Lebensjahr lese ich Rilke und ich war dabei gar nicht so interessiert, etwas über Rilke zu erfahren, aber ich habe durch seine Gedichte mich kennengelernt. Und andere Seiten an mir kennengelernt. Es ist auch spannend, Lebensbeschreibungen zu lesen, aber das ist nicht so wichtig. Ich sehe da einen Unterschied zur Popkultur, wo man versucht, jemand anderes zu sein, so auszuschauen und eine gewisse Kleidung zu tragen … Das ist nicht die Aufgabe der Kunst, es geht darum, Mut zu machen, zu sich selbst zu stehen. Thomas Merton, ein katholischer Mönch und Priester, der sich schon sehr früh gegen den Vietnamkrieg engagiert hat, sagte einmal, man dürfe nicht den Fehler machen, beim Engagement gegen den Krieg einen Erfolg zu erwarten. Davon sollte man sich nicht verblenden lassen. Man muss es deswegen tun, weil man die innere Gewissheit hat, man muss es tun. Das war der Fehler bei den Ideologisierungen. Ein Fehler, den man den Leuten gar nicht übelnehmen kann, weil sie dachten, man braucht eine Ideologie, um die ganze Welt gerechter zu machen. Nur, es funktioniert nicht. Man muss machen, was man macht, so wie sich Gandhi oder Sophie Scholl aus ihrer Würde heraus engagierten und nicht, weil sie meinten, sie können damit sofort die Welt verändern.

Zur Rettung der Popkultur kann man anmerken, dass Popmusik ein dialektischer Prozess ist. Junge Leute haben das Bedürfnis, so auszusehen wie Johnny Rotten. Damit sondern sie sich aus der großen Gruppen ab und stehen am Schulhof alleine herum. Der Austritt aus dem üblichen Ganzen, das Absondern ist wichtig und gelingt durch die Identifikation mit einem Popvorbild. Später ironisiert sich das, man findet die eigene Verkleidung ein bisschen lächerlich, hat sich aber als Individuum befreit. Ob man den Irokesenschnitt dann bis zum Lebensende behält oder nicht, ist unerheblich.
Das stimmt, so ist es gewesen. Das Aussteigen ist immer der Beginn der Popmusik, bis die dann leider kommerzialisiert wird. Aber dieser Prozess ist mir schon klar. Ich konnte Anfang der 1980er-Jahre, als der Punk hochkam, persönlich als Musiker da nie so viel mit anfangen, weil ich mich halt für andere Musik interessiert habe. Aber ich habe es von der anarchischen Idee her sehr gut verstanden und auch gemocht. (lacht) Den Gedanken, warum soll ich zwölf Jahre Klavier lernen, ich hau jetzt einfach mal drauf, den verstehe ich auch gut. Ist ein guter Gedanke.

Reden wir an dieser Stelle einmal über etwa Unangenehmes. Viele Linke verlieren gerade die Nerven. Sie fürchten sich vor ihren Mitmenschen und versuchen, diese dann zu manipulieren. Mitunter übernehmen sie auch gewisse Themen von den Rechten. Man nennt dies dann linken Populismus, wobei das widersinnig ist, denn der wird immer sogleich rechts.
Das sehe ich genauso.

Unverkennbar gibt es aktuell Tendenzen, die linke Politik zu erneuern, indem die »soziale Frage« betont wird und die moralischen Fragen hintangestellt werden sollen. Selbstverständlich geht es dabei immer nur um die Sache mit den Flüchtlingen. Auf welche Resonanz stößt in dieser hitzigen Debatte eine Liedzeile wie »Ich habe einen Traum, wir öffnen die Grenzen und lassen alle herein, alle die fliehen vor Hunger und Mord, und wir lassen keinen allein.«
Ich denke, da mag es zahlreiche und auch richtige politische Überlegungen geben – überhaupt keine Frage – aber ich werde in diesem Punkt »Ich habe einen Traum« beharrlich bleiben. Da bleibe ich bedingungslos. Und ich denke nicht daran, dieses Thema von Flucht und Vertreibung auch nur in irgendeiner Weise so aufzunehmen, dass ich damit dann den Rechten etwas an Zustimmung abjagen kann. Ich denke nicht daran, weil ich jede Form von Nationalismus, auch einen gemäßigten linken Nationalismus, grundsätzlich ablehne. Für mich ist Nationalismus einfach nur Scheiße. Ich verwende diese Worte nur ungern, aber man kann das auch mal provokativ so sagen. Wir haben diese Riesenchance gehabt, durch die Bewältigung dieser grausigen Vergangenheit, und sollten sie jetzt nicht verschenken. Ausschließlich übrigens in Deutschland und nicht in Österreich, wo man lange noch so getan hat, als sei Hitler einmarschiert und als wäre er nicht begeistert empfangen worden. Die Voraussetzungen waren also im Nachkriegsdeutschland besser als in vielen anderen Ländern der Erde. Wir konnten in Deutschland lernen, was für ein Elend aus Nationalismus und Rassismus entstanden ist, und wir haben es auch getan. Wir haben die Chance zu Demokratie und wir haben in Deutschland dieses großartige Grundgesetz. Was gerade passiert mit Seehofer, könnte mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes widerlegt werden. »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Die des Menschen und nicht die des Deutschen! Und der Staat hat die Verpflichtung, diesen Grundsatz auch durchzusetzen. Damit ist alles gesagt und es könnte juristisch vorgegangen werden, nur mit diesem einen Artikel im Grundgesetz.

Sie meinen also diese konservative Hypothese, wir bräuchten einen gemäßigten Nationalismus, um den Leuten etwas zur Identifikation anzubieten, ist falsch? Also keine harmlose Gruppenidentität mit Fähnleinschwingen bei der Fußball-WM?
Frank Schirrmacher hat damals geschrieben, bei dem »deutschen Sommermärchen« 2006, dies sei ein »tänzelnder Nationalismus«. Das hat mich damals schon so aufgeregt. Denn es war deutlich zu sehen, er wollte den Nationalismus zurückholen und hat langwierig gesucht, wie nennen wir es denn ein bisschen netter. Er hat sich sicherlich sehr viele Gedanken gemacht über diese Formulierung. Ein tänzelnder Nationalismus ist genauso falsch. Warum tänzelnd, warum gemäßigt? Nationalismus wird uns immer ins Elend führen. Es kommt noch etwas hinzu. Ich habe mit dem Neurobiologen Gerald Hüther zwei Auftritte gehabt. Wir haben uns da kaum abgesprochen und während einem gemeinsamen Seminar sagte ich plötzlich zu ihm: »Mensch, du bist ja ein Anarcho.« Das Wort hat ihm vielleicht nicht so gefallen.

Das ist belastet.
Genau. Es ist belastet, aber er ist es trotzdem. Und wir verstehen uns sehr gut. Ich komme von der Poesie her und er von der Neurowissenschaft. Er sagt, zehntausend Jahre Hierarchie haben für die, die oben waren, funktioniert und haben vieles bewirkt an technischen Entwicklungen. Aber jetzt geht es nicht mehr, weil die Welt zu komplex geworden ist. Es stimmt, die Menschen sind zivilisierter geworden und in großen Firmen beispielsweise geht es nicht mehr mit dem reinen Gebrüll des Chefs. Das ist vorbei. Was vor dreißig Jahren noch war: »Fräulein Müller bringen Sie mir den Kaffee«, das geht in dieser Form nicht mehr. Natürlich gibt es immer noch Unterdrückung, aber es ist ein neues Bewusstsein entstanden. Auch durch das Internet, das ja ein nicht hierarchisches System wäre.

Potenziell.
Ja, zumindest potenziell. Es kann natürlich hierarchisch ausgenützt werden. Gerald Hüther meint nun, hierarchische Systeme können in Zukunft nicht mehr funktionieren, weil damit die Komplexität der Welt nicht mehr eingefangen werden kann. Das kommt mir altem Anarcho entgegen, wohlwissend, dass dies eine Idee oder ein Traum ist. Aber genau dazu ist die Kunst da, die Flamme einer Idee am Lodern zu halten, selbst in bittersten Zeiten.

In schwierigen Zeiten sollten Linke Kontakt zu konservativen Denkerinnen und Denkern behalten. Leider kommen einem die oft mit gewissen Relikten aus dem Kalten Krieg. Ein Problem ist da immer die Frage des Privateigentums. Es wird einfach so getan, als gehöre die Sicherheit des Privateigentums zur humanistischen Grundausrüstung, weil man habe ja gesehen, wie schrecklich der Kommunismus war.
Der Kommunismus hatte ja auch ein Eigentum. Nur eben ein Staatseigentum! Da hat der Drewermann vor vielen Jahren in der Schweiz einem Vortrag über das Johannesevangelium oder dergleichen gehalten und plötzlich sagt er: »Und jetzt, meine Damen und Herren, möchte ich etwas ansprechen, was sie vielleicht erschüttern wird. Wieso gibt es überhaupt ein Recht auf Eigentum?«

Das ist die richtige Frage. Und wie soll man mit diesem Recht auf Eigentum die riesigen Probleme, die es im Moment gibt, lösen? Sei es in der Ökologie oder in der Finanzwirtschaft.
So ist es. Milliardäre wird man sich nicht mehr leisten können. Die Aktivistin und Dichterin Dorothee Sölle hat sich in ihren letzten Jahren mit der amerikanischen Armutsbewegung beschäftigt. Dort traf sie auf eine Mystikerin, ich habe leider ihren Namen vergessen, die eines Tages beschlossen hat, nichts mehr zu besitzen. Sie hat nur mehr gewohnt, wo sie eingeladen wurde, und hat Gutes getan. Sie hat in Armutsküchen gearbeitet und dergleichen. Unglaublich. Ich kriege da sofort ein schlechtes Gewissen. (lacht) Für jede Sekunde meines Lebens, wenn ich so etwas bedenke. Da hat sich Dorothee Sölle angeschlossen und hat sich in ihrem sehr schätzenswerten Buch »Mystik und Widerstand« am Ende dieses Themas angenommen. Diese Thematik wird selbst bei wilden Intellektuellen nicht gerne angepackt. Vielleicht, weil man Angst hat. Ich könnte auch sagen, ich habe ein Haus in der Toskana. Das ist zwar das Einzige, was ich habe, und da bin ich auch sehr froh drüber. Interessanterweise denke ich mir heute manchmal, ich habe zwei Söhne und für die wird es vielleicht einmal notwendig oder sogar überlebensnotwendig sein, dass sie das haben. Da denke ich dann plötzlich eigentumsbewusster. Vielleicht ist es eine dumme Ausrede, aber ich will es einmal so beschreiben: Ich habe kein Problem, meine Kreativität nicht als mein Eigentum zu betrachten, denn irgendwo ist es das auch nicht. Ich hatte noch nie eine Ahnung, wer meine Gedichte eigentlich geschrieben hat, und was kann ich eigentlich dafür, dass mir schöne Melodien einfallen? Nichts kann ich dafür, ich habe mir das nie erarbeitet. Klar, Klavierspielen habe ich ein bisschen geübt. Aber was einem in der Kreativität geschenkt wird, das ist ein Segen und sonst nichts. Und ich würde auch das geistige Eigentum herschenken, wie die Meister der »Wolke des Nichtwissens«, die ganz bewusst keinen persönlichen Autor genannt haben in diesen mystischen Schriften. Dafür wäre ich zu haben und auch das persönliche Hab und Gut gebe ich her. Wenn ich von zwei, drei Kleinigkeiten absehe, wie meiner Schlafkissenrolle. (lacht)

Ich denke, das ist okay, die zu behalten.
Wenn heute jedes Ding patentiert wird, jede kleine Erfindung bezahlt werden muss, dann sollen trotzdem wir Künstler alles für YouTube frei zur Verfügung stellen, damit dann im Fall von YouTube Google wahnsinnig viel Geld verdient? Das ist ein Problem. Jede kleine Veränderung einer Formel wird sofort wieder patentiert und zu Geld gemacht. Aber wir Künstler sollen die ersten sein, die alles zur Verfügung stellen?

Dies hat auch mit der aktuellen Krise des Publizierens zu tun. In den neuen, sozialen Medien arbeitet ein Millionenheer von Menschen unentgeltlich. Die schreiben Texte, die editieren, die gestalten Bild- und Filmbeiträge ohne Bezahlung und meist übrigens auch ohne Feedback und andere verdienen mit den Werken Geld.
So ist es. Das ist ärgerlich und dagegen müsste man etwas unternehmen.

Home / Musik / Artikel

Text
Frank Jödicke

Veröffentlichung
29.08.2018

Schlagwörter

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