Pflichttermin für alle, die ihr Herz schon lange an Tocotronic verloren haben, wie auch jene, die immer wissen wollten, was diese Band seit fast 30 Jahren ausmacht. Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Rick McPhail und Dr. Arne Zank hatten sich ein Gustostückerl ausgedacht: »Let There Be Tocotronic« ist sozusagen eine Werkschau, die die ikonischsten Songs der Band von Gründung bis Gegenwart umfasst. Wobei, »die ikonischsten«, da wird’s schwierig. Gemeinhin gilt jedes Lied, sagen wir, mindestens der ersten vier Alben als ikonisch; und natürlich wirst du zig verschiedene Antworten bekommen, wenn du einen Toco-Fan fragst, welches Lied unbedingt in so eine Werkschau gehört. »Let There Be Tocotronic« auf zwei Abende zu begrenzen, war in diesem Sinne fast gewagt. Zwei Abende hieß zwei Ären: »The Hamburg Years« enthielten Stücke aus den Jahren 1993 bis 2003, vom Debütalbum »Digital ist besser« bis zum selbstbetitelten »Tocotronic«, auch bekannt als »Weißes Album«, »The Berlin Years« Stücke ab dem Jahr 2003 bis heute.
Setlist-Wunder aus einer verlorenen Zeit
Der erste Song der »Hamburg Years« am Donnerstagabend war einer, der sozusagen den Prolog zu Hamburg darstellte: »Freiburg«, Ode an jene Stadt, aus der Sänger von Lowtzow mit Anfang 20 in den Norden flüchtete, weil er es mit den badischen Fahrradfahrern und Backgammonspielern nicht mehr aushielt. Das Publikum war sofort da, das war ja immer so bei Tocotronic, die Texte kannst du easy mitsingen, an diesem Abend eher: mitgrölen. Die nächsten Hymnen folgten nahtlos: »Digital ist besser«, »Drüben auf dem Hügel« und »Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit«. Bei der fünften Nummer, »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, gab es standesgemäß den ersten Moshpit, halbleere Bierbecher zischten über die Köpfe der vorderen Reihen. Ein Wunderding kurz vor der Hälfte des Konzerts: Tocotronic spielten »Michael Ende, du hast mein Leben zerstört«. Unter anderem aus »Scham, Pietät, inneren Zerwürfnissen« habe die Band das Lied lange aus der Setlist verbannt, erklärte von Lowtzow.
Die flauen Gefühle hatten Tocotronic für ihre Retrospektive erfreulicherweise ablegen können. Mit »Michael Ende« war man aber immer noch erst im Jahr 1995 und beim Album »Nach der verlorenen Zeit«, man fragte sich, für welche der unzähligen Gassenhauer der nächsten vier Alben bis 2003 es bis zur Sperrstunde reichen würde. Anschließend wurde es etwas gemächlicher, man erreichte die Phase des Werks, in der Melodiösität langsam, aber sicher den Krach zurückzudrängen begann. »Let There Be Rock«, »Jackpot« und »Hi Freaks« (schon im ersten Zugabenteil) waren Aushängeschilder der zweiten Hälfte, vom chronologischen Vorgehen verabschiedeten sich Tocotronic schließlich bei der zweiten und der dritten Zugabe. Mit »Letztes Jahr im Sommer« ging es zurück ins Jahr 1995, dann ein letzter Halt im Jahr 1997: »So jung kommen wir nicht mehr zusammen«, zehn Minuten Gitarrengeschrammelekstase, und die »Hamburg Years« waren passé.
Ein nicht ganz überraschender Gastauftritt
Mit »Willkommen zu unserer kleinen Festspielreihe« begrüßte von Lowtzow das Publikum am Freitagabend, der mit »Pure Vernunft darf niemals siegen« begann, einem Song, der laut dem Tocotronic-Sänger wie kein zweiter zur Stadt Wien passt. Danach »Aber hier leben, nein danke« – passt vielleicht auch irgendwie zu Wien. Zur Einordnung: Man befand sich nun im Jahre 2005 des Tocotronic-Werks, beide Lieder wie auch die zwei folgenden entstammen dem siebten Studioalbum (»Pure Vernunft darf niemals siegen«). Insgesamt waren die Reihen am Open-Air-Gelände der Wiener Arena etwas weniger fest geschlossen als am Vorabend. Vielleicht wegen des Regens, der jedoch bald nach Konzertbeginn vorbei war, vielleicht aber auch, weil Hamburg bei Wiener Toco-Fans höher in der Gunst steht als Berlin, wer weiß. Tocotronic jedenfalls arbeiteten sich mit Bravour und Spielfreude weiter durchs Werk, dazwischen von Lowtzows gen Himmel gereckte Faust und seine zuckersüßen, zärtlichen Dank- und Liebesbekundungen ans Publikum. In der Gegenwart angekommen war man erst mit der Zugabe: »Nie wieder Krieg«, der Song, den sich Tocotronic weniger gegenwartsrelevant gewünscht hätten.
Was die, die nur zu den »Hamburg Years« da waren, versäumten? Vor allem das: Zum Ende tauschte von Lowtzow das erste und einzige Mal die elektrische gegen die akustische Gitarre und auf die Bühne trat … niemand geringeres als Anja Plaschg alias Soap&Skin, um im Duett die Ballade »Ich tauche auf« vom aktuellen Album zu singen. Klar, manche hatten es gemunkelt, schließlich Heimvorteil für Plaschg, natürlich riesengroßer Jubel über das Zusammenwirken der Diskursrocklegenden und der gegenwärtig herausragendsten (Avantgarde-)Popmusikerin Österreichs. Ein krönender Abschluss? Mit Sicherheit, allerdings gab es noch eine dritte Zugabenrunde (»Hoffnung«) – und als der Großteil der Anwesenden schon in der Kloschlange, bei der Becherrückgabe oder nahe dem Ausgang war, da stürmten Tocotronic tatsächlich ein weiteres Mal auf die Bühne und krawallten gemeinsam mit dem Publikum: »Ich bin alleine und ich weiß es / Und ich find’ es sogar cool / Und ihr demonstriert Verbrüderung«. »Freiburg«, der Kreis ward geschlossen.